Maedchenauge
der letzten Tage hatte Lilys Zeitgefühl verändert.
Auch Magdalenas Elternhaus befand sich in einem betont ordentlichen Zustand. Alles war brav und bieder, dennoch wirkte es heimelig und einladend. Von Sterilität war hier keine Spur.
Margit Karner hatte Lily und Descho höflich empfangen und ins Wohnzimmer geführt. Unterschwellig war zu spüren, dass sie nicht wusste, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Neben ihrem stolzen, wortmächtigen, aufbrausenden Mann hatte sie zunehmend die Rolle der schweigsamen, kalmierenden Ehefrau eingenommen.
Lily beschloss, das Gespräch direkt anzugehen. »Frau Karner, ich weiß, dass Sie mein Besuch überrascht. Aber es ist dringend nötig, so viel kann ich Ihnen verraten. Bitte erzählen Sie mir, was vor zehn Jahren geschehen ist. Was hat sich während dieser Reise ereignet, die Zach organisiert hat?«
Die Mutter blickte sie mit großen Augen an und schien verschreckt wie ein junges Tier. »Wieso … was … woher wissen Sie …?«
»Ihr Mann hat mir davon berichtet. Ich glaube, er vertraut mir. Bitte helfen Sie mir auch. Ich muss die Wahrheit wissen. Nur mit der Wahrheit erreicht man Gerechtigkeit.«
Frau Karner nickte kurz, doch ihre Irritation hatte sich nicht gelegt. Lily beugte sich vor und redete leise auf sie ein. »Ich bin überzeugt, dass diese alte Geschichte der Schlüssel ist, um den Menschen zu finden, der Magdalena Böses angetan hat. Bitte helfen Sie mir, diesen Menschen seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
Frau Karner schaute Lily lange an.
Bis sie mehrmals hintereinander nickte und signalisierte, Lilys Worte verstanden zu haben. Dennoch wirkte sie weiter verunsichert und in sich gekehrt.
Zaghaft begann sie schließlich. »Aber … wie … wie soll das gehen? Zach ist tot. Den werden Sie nicht mehr verhaften können …«
Lily sprach betont langsam, leise und zugleich ohne Druck. »Erzählen Sie mir einfach, was vor zehn Jahren geschehen ist.«
Frau Karner atmete tief ein. Man konnte geradezu hören, wie eingezwängt und verkrampft ihr Brustkorb war. »Das ist so … so schwer für mich. Es geht … um etwas, das privat ist … Es ist schwierig … die richtigen Worte zu finden.«
»Und ich bin überzeugt, dass Sie die richtigen Worte finden werden. Was immer Sie sagen, es wird stimmen. Weil es um Ihren Mann und um Magdalena geht.«
Verstockt saß Margit Karner in ihrem Wohnzimmer. Sie rang mit sich selbst, weil sie es nicht gewohnt war, mit anderen Leuten über Privates zu sprechen. Also legte Lily behutsam nach: »Magdalena will, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Da bin ich absolut sicher. Sie hat genug vom Verschweigen und Vergessen. Sie hört uns zu. Und erwartet von mir, dass ich sie räche und die Bösen zur Strecke bringe. Das kann ich tun, wenn Sie mir helfen.«
Jetzt sah Frau Karner die Staatsanwältin an, plötzlich war Klarheit in ihrem Blick. »Sie haben recht … ja, das würde sie wollen … denn sie war ein grundehrlicher Mensch …«
Mit einem Mal hatte sie zu einer aufrechten, unbeugsamen Haltung gefunden, die sie vielleicht schon vor Jahrzehnten abgelegt hatte.
»Also gut«, sagte sie leise. »Ich werde es versuchen … Vor zehn Jahren ist eine Reise nach Südtirol organisiert worden. Jugendliche aus Pfarren in ganz Österreich haben daran teilgenommen. Es ist darum gegangen, ein paar angenehme Tage zu verbringen und den Papst zu sehen, der in der Nähe Urlaub gemacht hat … Magdalena war damals sehr gläubig und hat unbedingt dabei sein wollen … Also ist sie mitgefahren. Zach hat die Organisation übernommen …«
»Wo in Südtirol hat sich diese Jugendgruppe aufgehalten?«
»In Klausen.«
»Erzählen Sie bitte weiter.«
Die Augen von Frau Karner waren nun zur Decke gerichtet, als wollte sie sich besonders genau erinnern. »Das alles hat nach einer sehr schönen Sache ausgesehen. Aber dann ist Magdalena zurückgekommen und war sehr verändert. Nie wieder ist sie so geworden, wie sie vorher gewesen ist … Sie war nicht mehr so offen und locker und zugänglich … sondern verschlossen und auf peinliche Sauberkeit bedacht … Am auffälligsten war, dass sie sich von der katholischen Kirche und Zach distanziert hat. Sie hat mit denen nichts mehr zu tun haben wollen. Sie hat sich vollständig von ihrem alten Leben getrennt. Wir haben das am Anfang auf die Pubertät geschoben … aber irgendwann haben mein Mann und ich uns gewundert, warum sich Magdalena plötzlich so abkapselt. Es ist zu einem Streit gekommen, der mir
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