Maengelexemplar
mittelwitzig, Karo. Meine Eltern sitzen beide im Rollstuhl.« Ich glaube, mir ist tatsächlich das Gesicht entglitten, und ich muss irrsinnig rot geworden sein. Nelson drehte sich um und ging wortlos ins Wasser, während ich kurz in Erwägung zog, mit dem Mietwagen abzuhauen, um Nelson nie wieder unter die Augen treten zu müssen. Kinder, was habe ich mich geschämt! Es war absolut unmöglich, vorsichtig zu erforschen, ob es sich vielleicht nur um einen Nelson-Witz gehandelt hatte, wäre das nämlich nicht der Fall gewesen, hätte ich mich mit der Nachfrage tatsächlich so was von mit der Karmapolizei angelegt, dass im Grunde nur noch Selbstmord in Frage gekommen wäre. Es half also nichts, ich musste mich weiter schämen und das Thema wechseln. Nelson hat mir erst viel später, auf Nachfrage, lachend erzählt, dass seine Eltern natürlich nicht im Rollstuhl sitzen und dass er damals gedacht hatte, dass meine fehlende Reaktion auf seinen Witz darauf zurückzuführen gewesen wäre, dass ich selbigen einfach nur nicht gut fand. Top! So ist Nelson. Der kann immer noch einen drauflegen.
Und jetzt soll Nelson sich bitte von mir zum See fahren lassen, denn es ist heiß, und ich habe Angst, kaputtzugehen, wenn mich keiner ablenkt.
Im Auto fragt Nelson: »Na, Püppi? Was gibt’s Neues?«
Ich fange unmittelbar an, zu weinen. In letzter Zeit kann ich das gar nicht mehr so gut steuern. Kein langsames Anschwellen, zitternde Unterlippe, feuchte Augen und brechende Stimme, sondern direkt
Apocalypse now!
Damit kann Nelson nicht umgehen. Rohe Emotionen bringen ihn durcheinander. Als Erstes schaltet er immer vorsichtshalber auf
Verstand
(davon hat er viel, das kann er gut) und sagt Sachen wie: »Soll ich lieber fahren?«
»Nein, ist alles nicht so schlimm«, schluchze ich. Natürlich ist das Bockmist. Denn es ist sehr wohl alles ziemlich schlimm, ich bin seit Wochen dumpf und traurig, ich habe keinen Job und nun auch keinen Freund mehr. Aber so bin ich nicht. Ich kommuniziere das nicht. Nicht, weil ich mein Inneres nicht teilen will, sondern weil ich anderen nicht zur Last fallen möchte. Ich will niemanden langweilen oder anstrengen. Also werden immer die Arschbacken zusammengekniffen, der Rotz hochgezogen, ein schiefes Grinsen aufgesetzt und ein Notfallwitz gemacht. Weshalb denn Hilfe beanspruchen, wenn man es auch allein schaffen kann? Nee, lass mal, Nelson, genug von mir, wir reden jetzt mal über dich! Was gibt’s Neues? Was ist das Verkaufsobjekt der Woche bei euch im Sender? Vielleicht eine von diesen tollen Saftpressen? Ich könnte eine gebrauchen, meine alte ist nämlich ...
Aber da macht Nelson nicht mit. »Na, offensichtlich ist aber sehr wohl alles ziemlich schlimm, wenn ich dich so sehe!«, sagt er streng, vorsichtshalber die Straße nicht aus den Augen lassend. »Fahr mal rechts ran.« Ich will nicht rechts ranfahren. Wir sind ja noch nicht einmal aus meiner Straße raus, geschweige denn auf dem Land. Außerdem kann ich mich besser zusammenreißen, wenn ich Auto fahre. Aber hier unterscheidet sich Nelson von Mädchenfreunden: Nix mit Streicheln und »Ach, komm, Süße!«, sondern Nelson wird ganz erwachsen und vernünftig und, Trauer hin oder her, ärgerlich: »Du fährst jetzt rechts ran, Karo. Das ist doch scheiße. So heftig, wie du weinst, kannst du nicht Auto fahren, und ich will hier nicht sterben. Du doch auch nicht!« Na, da bin ich mir nicht so sicher wie er, aber ich will keinen Ärger und halte für einen Fahrerwechsel. Dies ist kein Umarmungs-Boxenstopp oder eine Trostpause, wir wechseln einfach nur die Seiten. Das kann Nelson am besten: die Kontrolle übernehmen. Da ist er wie ich. Aber es ist nicht so, dass Nelson nicht Anteil nimmt. Im Gegenteil: Sein Gesicht drückt seriöse Besorgnis aus. Wie ein Polizist, der eine Vergewaltigung aufnimmt: auf eine eher professionelle Art. Er verschafft sich einen Überblick über die Fakten, um die Lage einschätzen zu können. Polizisten umarmen einen nicht. Und Nelson eben erst mal auch nicht. Ich muss dem Herrn Oberleutnant alles genau erzählen, und das tue ich auch. Ich möchte keine Probleme mit der Staatsgewalt. Ich berichte alles, von meiner ersten Stunde mit Anette bis zu meinem Traum von Philipp. Als ich fertig bin, haben wir den See erreicht, und ich bin fürs Erste zwar unverändert tiefer-, aber zumindest trockengelegt.
Der Strand ist überfüllt, aber wir finden eine kleine private, deshalb umzäunte, Badestelle. In diesen Strandkäfig kommt
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