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Maengelexemplar

Titel: Maengelexemplar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Kuttner
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beschämt mich. Ich will so nicht denken. Ich will mich nicht darüber freuen, dass es endlich mal jemandem schlechter geht als mir. Auf der anderen Seite scheint es immer noch einen Schwelbrand in mir zu geben, schließlich ist mir bei der bloßen Erinnerung an meine eigenen Schmerzen fast schwindlig geworden. Ich bekomme das Gefühl, dass mein Körper mich austrickst. Mir vorspielt, dass es mir gut geht, und wenn ich mal kurz nicht aufmerksam bin, kann ich das kleine Feuer wieder riechen. Und wenn mein Körper mich bescheißt, bedeutet das, dass
ich selbst
mich bescheiße. Niemand, dem ich die Schuld für das Durcheinander in mir geben kann.
    Meine Therapiestunden frustrieren mich. Ich bin das ganze Gerede über mich und meine Ängste langsam satt. Ich möchte nicht noch mehr Verbindungen knüpfen, will nicht mehr analysieren. Seit über einem halben Jahr häufe ich mit Anette Wissen über mich und meine Seele an, spreche mit Freunden stundenlang über Psychokram im Allgemeinen und mich im Speziellen, und doch komme ich keinen Schritt weiter. Ich kann mein Wissen einfach nicht anwenden. In den Sitzungen ergibt alles sehr viel Sinn, aber sobald ich wieder draußen in der Welt stehe, denke ich jedes Mal:
Was muss ich jetzt nochmal genau machen, um vollständig ganz zu werden?
Anette findet natürlich, dass ich überhaupt nichts
machen
muss. Und dass es auch nicht um Schnelligkeit oder vollständige Ganzwerdung geht. Es gehe hauptsächlich darum, zu akzeptieren, dass man so ist, wie man ist. Dass man Ängste hat und diese Ängste auch ihre Berechtigung haben. Aber ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren. Ich war siebenundzwanzig Jahre lang normal, ich sehe nicht ein, nie wieder die Alte sein zu können. Ich will eine Lösung für mein Problem.
    Manchmal habe ich große Angst, dass ich vielleicht zu kompliziert für eine einfache Seelenheilung bin. Ich komme mir plötzlich unangenehm vielschichtig vor. Heile ich grade wirklich, oder spiele ich mir nur vor, dass ich heile? Oder spiele ich mir vor, dass ich mir vorspiele, zu heilen? Mein Kopf ist ein Labyrinth aus Möglichkeiten, und ich bemerke plötzlich, dass ich mir selbst nicht mehr traue.
    Und das ist große Scheiße.

Am Wochenende ruft mich Max an: »Karo! Kann ich auf dein Angebot mit den schmuddeligen Witzen zurückkommen?«
    »Klar!«, sage ich und krame hektisch in meinem Kopf nach einem zünftigen Exemplar. »Wie geht es dir denn?«, schinde ich Zeit.
    »Ach, ich weiß nicht. Ich glaube immer noch, dass es die richtige Entscheidung war, aber die Wohnung ist ganz leer ohne sie!«
    Ich bin gerührt. Ich möchte, dass das auch mal jemand über mich sagt, wenn ich weg bin. »So dick war sie doch gar nicht«, pruste ich. Ganz klar eine Übersprungshandlung. Ich entschuldige mich sofort.
    »Kein Problem«, kichert Max. »Sollen wir ins Kino gehen oder so? Mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf!«
    Also gehen wir ins Kino. Wir haben Spaß, und Max versucht, so wenig unglücklich wie möglich auszusehen.
    An jedem neuen Tag scheint Max ein wenig von seiner Körperspannung zurückzugewinnen.
    Und jeden Morgen sage ich wie eine Mutti zu ihm: »Es scheint dir besser zu gehen!«
    Und jedes Mal grinst Max und sagt: »Das kann nur an dir liegen!«
    Dann lache ich immer und sage: »Jaha!«, und dann macht jeder mit seiner Arbeit weiter.
     
    Und plötzlich verändert sich langsam ganz, ganz leise der Ton zwischen uns. Max’ Blicke sind ein bisschen länger und meine Witze lauter als nötig. Wir sehen uns viel, um Max von seinem Kummer abzulenken, und dabei lenken wir uns versehentlich in den falschen Hafen. Oder zumindest in einen anderen Hafen, als geplant. Ich erwische mich dabei, mir mehr Gedanken über meine Kleidung zu machen. Ich bombardiere Max mit fürchterlich vielen doppeldeutigen doofen Witzen, und Max pingpongt zurück. Jeder normale Mensch würde uns belächeln, den Braten riechen, die Sache als eindeutig und »zu den Akten bitteschön« bestempeln. Nur wir beide gurken umständlich umeinander rum. Wir sind zu unsicher, um diesen neuen Geschmack in dem Mahl unserer losen Freundschaft zu benennen. Jeder denkt, er könnte sich irren.
    Wenn wir uns nicht sehen, telefonieren wir. Wir sprechen über dies und das, nur nicht über
jenes
. Sprechen immer wieder über Max’ Exfreundin und über Philipp. Das Gerede über unsere Expartner hindert uns dankbarerweise daran, uns miteinander zu beschäftigen. Wir trauen uns nicht. Unseren eigenen Gefühlen nicht und

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