Maengelexemplar
essen, sonst werden wir uns für den Rest des Morgens zwar die Hände halten, aber nicht sehen. Aber uns beiden ist das Risiko zu groß, einander gehen zu lassen. Also liegen wir, den Morgengeschmack mit Spucke hinunterspülend, im Bett und reden. Ganz langsam wandern unsere Hände dabei, scheinbar belanglos, aus dem sicheren Hafen und erkunden Handgelenke und Unterarme. Wir unterstreichen Gesagtes mit einem zarten Klopfen auf den Oberarm, verstärken Witze durch ein kleines Kneifen. Wir sind sehr vorsichtig. Als ob immer noch die Möglichkeit eines Missverständnisses bestünde, versuchen wir, unsere gegenseitigen Berührungen so unverfänglich wie möglich zu gestalten. Wir machen alles so, wie wir es seit über zehn Jahren nicht mehr gemacht haben: Wir provozieren einander verbal, sodass eine laute körperliche Reaktion angebracht ist. Wir reden Unsinn, nur um einander danach anrempeln zu können. Wir kitzeln uns sogar. Es ist beschämend. Aber wir kommen uns immer näher. In Rempelpausen liegen wir Bauch an Rücken und verschnaufen, denn unsere Schnecken-Annäherung ist kraftraubend. Wir klammern uns aneinander fest wie zwei Boxer im Ring. Und dann geht’s wieder weiter.
Schließlich nehme ich Max’ Arm und halte ihn wie eine Puppe fest umklammert und nah an mein Gesicht. Ich rieche seine Haut, und seine Haare kitzeln meine Nase, und dann küsse ich den Arm ein bisschen und begehe damit eine längst fällige Grenzüberschreitung.
Max gibt mir als Begrüßungsgeld einen Kuss auf die Schläfe und nimmt mich in den Arm. Wir plappern weiter, nur um uns der Situation nicht allzu bewusst werden zu müssen, aber wir vergessen auch nicht zu küssen. Unsere Arme und Schultern und Nacken und Finger. Wir küssen unsere Köpfe, unsere Ellenbogen, die Handrücken, und sogar unsere Schlüsselbeine werden von kleinen, federleichten Kussketten überzogen. Nur unsere Münder finden einander nicht. Manchmal sind sie sich sehr nahe, oft mit einem anderen Körperteil beschäftigt. Wir küssen aneinander vorbei. Die Nase, das Kinn, die Stirn, sogar die Mundwinkel. Als ob wir noch zurückkönnten. Im Notfall. Einer von uns beiden könnte ja plötzlich entrüstet sagen: »Was zum Teufel machst du denn da?«
Und eine Ewigkeit später treffen sich unsere unsicheren Münder endlich und begrüßen sich ganz verschüchtert und geben sich die Lippen, und ich frage mich, weshalb wir damit so lange gewartet haben.
Nun zahlt es sich aus, dass wir die ganzen anderen Körperteile schon angeküsst haben, denn jetzt kommen wir wirklich nicht mehr dazu. Wir sind sehr konzentriert auf unsere Münder, wir küssen und küssen und freuen uns, wie gut wir passen, und küssen weiter und weiter und weiter. Der Rest unserer Körper ist eingeschnappt, er fühlt sich vernachlässigt. Aber darauf können wir nun wirklich keine Rücksicht nehmen.
Wir schlafen nicht miteinander. Wir küssen uns nur das Gesicht rot und sehen uns zwischendurch immer erstaunt an. Max’ Betthaare stehen ihm gut, er findet sie doof. Ich mache ihm lustige Frisuren und bewundere immer wieder seine Sommersprossen. »Du kannst dir eine aussuchen, wenn du möchtest«, bietet er mir an. Blöder Pubertätskram, denke ich, liebäugle aber sofort mit ein paar besonders schönen Exemplaren. Die Wahl fällt schwer, es sind so viele! »Kann ich auch alle haben?«, will ich wissen. »Nein, du musst dich entscheiden.« Immer, wenn ich versuche, mir eine auszusuchen, fangen sie an, vor meinen Augen zu flimmern. Ich entscheide mich für einen Irrläufer auf der Brustwarze. »Soso«, sage ich, »eine eigene Sommersprosse habe ich also schon. Dann steht einer Hochzeit ja wohl nichts mehr im Wege!« Max lächelt merkwürdig, und ich hoffe, dass ich nicht zu weit gegangen bin. Aber wem mache ich hier was vor, ich würde den gepunkteten Max auf der Stelle heiraten.
Aber solche Entscheidungen sollten nicht vor dem Zähneputzen getroffen werden, also schälen wir uns aus dem Bett und küssen uns aus dem Haus und in ein Frühstückscafé. Auf der Straße werden wir wieder schüchtern. Dieses neue Wir ist so neu und noch ein wenig unhandlich. Max wird steif, er hat Angst, seine Exfreundin auf der Straße zu treffen, und ich habe Angst, zu überfordern, also sind wir vorläufig wieder nur Max und Karo und frühstücken mit heimlich glänzenden Augen.
Und dann gehen wir wieder zu Max, ganz zappelig und ausgedörrt von der berührungsfreien Zeit und küssen schon im Fahrstuhl. Und im Hausflur. Und
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