Maenner fuers Leben
selbst und frage mich, wie Andy und ich hierhergeraten sind – nach Georgia und in den angespannten emotionalen Zustand unserer Ehe. Einer Ehe, die nicht mal ein Jahr alt ist. Ich muss daran denken, dass alle sagen, das erste Jahr sei das schwerste, und ich frage mich, wann – und ob – es leichter wird. Und in diesem stillen Augenblick erliege ich der Versuchung, die mich lockt, seit wir nach Atlanta gekommen sind.
Ich gehe die Treppe hinauf ins Arbeitszimmer, wühle mich bis auf den Grund meiner Schreibtischschublade und grabe das verbotene Platform- Heft aus, das ich seit unserer Abschiedsparty in New York nicht mehr aufgeschlagen habe. Nicht einmal, als ich es an der Kasse im Supermarkt gesehen habe, und auch nicht, als Andy das Exemplar, das er gekauft hatte, stolz seinen Eltern präsentierte.
Eine Zeitlang starre ich das Coverfoto von Drake an. Dann klickt irgendetwas in mir, und ich atme tief durch, setze mich hin und schlage den Artikel auf. Ich bekomme Herzklopfen, als ich die Autorenzeile sehe, Leos Text und meine Fotos – Fotos, die die Emotionen jenes Tages wieder hochkommen lassen: die freudige Erwartung, die Sehnsucht. Fremdartige Emotionen waren das damals.
Ich schließe die Augen, und dann öffne ich sie wieder und fange an zu lesen, und gierig verschlinge ich die Story. Als ich fertig bin, lese ich sie noch zweimal, langsam und methodisch, als suchte ich nach einem geheimen Doppelsinn inAbsätzen, Sätzen und Wörtern. Und schließlich geht mir dieser Doppelsinn tatsächlich auf, bis mir schwindlig ist und ich nur noch eins will: mit Leo sprechen.
Also weiter.
Ich schalte den Computer ein, tippe seine E-Mail-Adresse und schreibe ihm eine Nachricht.
Lieber Leo,
ich habe eben deinen Artikel gelesen. Er ist perfekt. So eindringlich. Nochmals danke für alles. Ich hoffe, es geht dir gut.
Ellen.
Und bevor ich es mir anders überlegen kann, klicke ich auf «Senden». Dieser eine Klick macht alles gut, meine ganze Frustration ist weg, mein Groll, meine Angst. Ich weiß, dass ich das nicht darf. Ich weiß, dass ich mir etwas zurechtrede, um mein Verhalten zu rechtfertigen, und ich befürchte, dass ich sogar Streit mit Andy suche, nur um mich so verhalten zu können. Ich weiß auch, dass ich damit Tür und Tor für weitere Schwierigkeiten öffne. Aber in diesem Augenblick geht es mir gut. Richtig gut. Besser als seit langer, langer Zeit.
Sechsundzwanzig
Genau vier Minuten später erscheint Leos Name in meinem Posteingang. Staunend starre ich auf den Monitor, als wäre ich meine Großmutter, die diese neue Technologie bewundert – woher um alles in der Welt kommt denn das? Eine Sekunde lang bereue ich, was ich da angefangen habe. Ich überlege sogar, ob ich seine Mail löschen oder ob ich zumindest für ein paar Stunden vom Computer weggehen soll, bis der Knoten in meiner Brust sich gelöst hat.
Aber die Versuchung ist zu groß. Ich suche fieberhaft nach irgendwelchen Ausreden, warum ich diese Mail jetzt sofort lesen muss. Schließlich, sage ich mir, bin ich ja nicht leichtfertig an diesen Punkt gekommen. Ich habe nicht aus einer Laune heraus Kontakt mit Leo aufgenommen. Ich habe ihm nicht nach einem bedeutungslosen Ehezank geschrieben. Erst nach Wochen der Einsamkeit und Depressionen und Frustration – an der Grenze der Verzweiflung – bin ich so weit gewesen. Mein Mann hat mir gestern Abend den Rücken zugewandt, und heute Morgen noch einmal. Außerdem – es ist ja nur eine E-Mail. Was kann das schaden?
Also hole ich tief Luft und öffne Leos Antwort, und mein Herz klopft lauter denn je, als ich seine Nachricht lese, die ganz aus intimen Kleinbuchstaben besteht.
danke. freut mich, dass es dir gefallen hat.
es war ein schöner tag. leo
ps: warum hast du so lange gebraucht?
Das Blut steigt mir in den Kopf, und hastig tippe ich:
Um deine Story zu lesen oder um mich zu melden?
Er antwortet sofort.
beides
Ich spüre, wie meine Anspannung sich löst, und lächelnd bemühe ich mich um eine geistreiche, aber wahrheitsgemäße Antwort. Eine vorsichtige Reaktion, die diese Korrespondenz in Gang hält, ohne dass das Ganze eindeutig ein Flirt wird. Schließlich schreibe ich:
Besser spät als nie.
Ich klicke auf «Senden». Kerzengerade und konzentriert, wie eine Sekretärin, die an der Schreibmaschine auf ein Diktat wartet, sitze ich da. Mein ganzer Körper ist hellwach, als ich auf seine Antwort warte. Einen Augenblick später ist sie da:
sag ich doch die ganze
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