Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi
eben einfach zu groß, und wäre sie allein gewesen, hätte Birgit sich längst mit ihren Prachtmaßen arrangiert. Nur für Gerd hat sie immer noch gekämpft – und jetzt das.
Birgit Westermür nimmt die Einfahrt zum Schulparkplatz mit zu viel Schwung und fährt fast eine Fünftklässlerin über den Haufen, die gerade noch ihr Fahrrad zur Seite reißen kann. Die Lehrerin stoppt sofort, lässt das Seitenfenster herunter und entschuldigt sich wortreich. Die Schülerin nickt verschreckt und schaut Birgit Westermür mit großen Augen ins Gesicht.
Man sieht es, denkt Birgit erschrocken. Man kann schon sehen, wie schlecht es mir geht. Man kann sehen, was mir alles durch den Kopf schwirrt. Meine Sorgen, meine Ängste, meine Nöte.
Aber kann man auch den Hass sehen?, fragt sie sich jetzt. Diesen unglaublichen Hass auf Gerd und seine Nutten.
Freitag, 17. Juni, 10.25 Uhr,
Bahnhof Westerland
Mit einem schabenden Geräusch kommt der Zug am Bahnsteig zum Stehen. Das Sonnenlicht spiegelt sich in den dunklen Scheiben und glänzt auf den Wänden der Waggons. Knallend öffnen sich die Türen.
Kriminalkommissarin Silja Blanck steht im Schatten eines Vordaches. Sie trägt ein hellblaues Leinenkleid und flache schwarze Sandalen. Ihre dunklen Haare sind am Hinterkopf zu einem Knoten gedreht. Die junge Frau ist eine auffällig attraktive Erscheinung und hat in den zehn Minuten, die sie wartend auf dem Bahnsteig verbracht hat, etliche Blicke auf sich gezogen. Silja Blanck nimmt so etwas mit Gleichmut hin, weil sie sich darauf verlassen kann, dass ihre kühle Ausstrahlung die Menschen in der Regel davon abhält, sie anzusprechen. Auch jetzt ignoriert sie die mit ihr Wartenden und beobachtet stattdessen konzentriert die Ankommenden.
Ihre Freundin Judith Lissen ist groß und schlank und wird mit ihren langen blonden Haaren sicher inmitten der aussteigenden Touristen auffallen. Als Silja zu Semesterbeginn in ihrer ersten Hamburger Vorlesung saß, ist ihr Blick auch sofort an Judiths sonnenhellen Haaren hängen geblieben. In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe über mittelalterliche Tafelmalerei haben beide sich dann kennengelernt, und Judith, die bereits im vierten Semester ist, hat Silja ein paar nützliche Tipps gegeben. Noch hat die Kommissarin nur einen Gasthörerstatus und besucht einmal in der Woche zwei Veranstaltungen. Nach einer schweren Schulterverletzung im letzten Sommer war sie monatelang dienstunfähig und hat in dieser Zeit beschlossen, sich mit dem Nebenstudium einen alten Traum zu erfüllen. Vielleicht wäre ihr die Mühe der wöchentlichen Hamburgfahrten nach ihrer Rückkehr in den Dienst bald zu viel geworden, doch da hatte sie schon Judith kennengelernt. Und mit der beginnenden Freundschaft gab es bald zwei Gründe für die Exkursionen in die Hansestadt.
Aber wo bleibt Judith bloß?
Wieder lässt Silja den Blick über die Eintreffenden schweifen. Doch bis jetzt kann sie nur ältere Ehepaare, Pulks von Jugendlichen und einige Alleinreisende mit Rucksäcken entdecken. Die üblichen Tagestouristen eben, die im Sommer von morgens bis abends die Insel überschwemmen und nicht immer mit dem Wohlwollen der Bewohner rechnen können.
Doch plötzlich hält ihr jemand von hinten die Augen zu. Obwohl Silja gleichzeitig Judiths Lachen hört, fährt ihr der Schreck in alle Glieder, und sie muss sich zusammenreißen, um nicht mit einer heftigen Abwehrbewegung zu reagieren.
»Hey, entspann dich. Ich bin’s.«
Lachend baut sich Judith vor der Freundin auf. Silja fährt sich mit einer erleichterten Bewegung über die Stirn.
»Hast du mich erschreckt! Irgendwie bin ich nicht mehr die Alte, seit diese Frau mich im letzten Sommer niedergeschossen hat.«
Judith hebt beide Arme, als wolle sie sich ergeben.
»Ich bin unbewaffnet und komme in friedlicher Absicht. Großes Kunsthistoriker-Ehrenwort.«
»Okay, überzeugt. Lass uns erst mal aus diesem Trubel hier flüchten. Wollen wir irgendwo frühstücken gehen oder willst du erst zu mir nach Hause das Gepäck abladen? Sind nur zehn Minuten zu Fuß.«
»Frühstücken wäre toll. Ich habe rasenden Hunger. Bin so früh aufgestanden, da habe ich noch nichts runtergebracht. Und auf die Bahn-Sandwiches stehe ich auch nicht so recht.«
»Wie schwer ist deine Tasche denn?« Silja hebt das Gepäckstück kurz an. »Also das können wir zu zweit gut tragen. Was hältst du davon, wenn wir erst mal in Richtung Meer gehen und dann ein Stück die Kurpromenade runter. Ich weiß dort ein tolles
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