Männer sind Helden
kleine, fotokopierte Karte und eine kurze Wegbeschreibung beigelegt. Die Kirche stand mitten im Dorf, umgeben von einer alten Feldsteinmauer, die über und über mit Efeu bewachsen war. Der Pastor, ein junger Mann mit zartem Flaum auf der Oberlippe, kam uns entgegen. „Herzlich willkommen!“, rief er enthusiastisch und wischte sich mit einem blitzsauberen Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. „Mein Name ist Grobian, ich werde das Paar trauen.“
Isabel und ich stellten uns ebenfalls vor. Pastor Grobian war sichtlich nervös, immer wieder blickte er auf die Turmuhr und tupfte sich mit dem Taschentuch ab. „Das ist erst meine zweite Trauung“, sagte er und schob seine dunkelbraune Hornbrille auf der Nase zurecht. „Beim letzten Mal sind mir die Ringe heruntergefallen. Ich hoffe, dass mir das nicht noch einmal passiert.“ Geistesabwesend nahm er seine Brille ab und putzte mit dem Taschentuch die Gläser. Er musste fast blind sein, denn die Gläser waren einen Zentimeter dick. In der Zwischenzeit hatten sich fast alle Hochzeitsgäste auf dem kleinen Platz vor dem Eingangsportal der Kirche versammelt. Eine Frau im Trachtenkleid und Pagenfrisur instruierte zwei kleine Mädchen in hellblauen Kleidchen, die Körbe mit Sommerblumen in den Händen hielten. Der Pastor bat uns, drinnen Platz zu nehmen. Wir sahen noch, wie Rudi um die Ecke kam, begleitet von seiner Mutter. Der Pastor schloss die Tür, und die Glocken begannen zu läuten. Isabel und ich setzten uns in die zweite Reihe neben ein junges Paar mit zwei kleinen Jungen in Matrosenanzügen. Fünf Minuten passierte überhaupt nichts. Die beiden Jungen in den Matrosenanzügen rutschten unruhig von einer Pobacke auf die andere.
„Wann geht es denn endlich los?“, fragte einer von ihnen, ein rothaariger Steppke, dem beide Vorderzähne fehlten.
„Pssst!“, sagte seine Mutter und blickte ihn streng an. Für einen Moment gab er sich zufrieden.
Als er ein weiteres Mal fragen wollte, setzte die Orgel ein, und das Hautportal öffnete sich. Die Hochzeitsgemeinde erhob sich, und alle drehten sich zum Mittelgang. Zuerst sah man Pastor Grobian mit hochrotem Gesicht, der andächtig seine Bibel in der Hand hielt. Dann kamen die beiden kleinen Mädchen, die mit ernsten Gesichtern Blumen auf den Kirchenboden streuten. Und endlich erschien das Brautpaar: Susi in einem weißen mit Perlen bestickten Brautkleid, Rudi in einem dunkelblauen Anzug mit klatschmohnroter Fliege. Als die beiden an uns vorbeigingen, konnte ich Susi genauer betrachten. Sie sah einfach umwerfend aus: Ihr blondes Haar war nach oben hochgesteckt, nur einige Locken hingen herab. Auf ihrem Kopf war eine glitzernde Krone befestigt, und ein Tüllschleier umhüllte ihr hübsches Gesicht. Das Brautpaar setzte sich auf Stühle, die schräg gegenüber der Kanzel standen. Eins der Blumenmädchen musste ihre Aufgabe falsch verstanden haben: Sie drehte sich um und begann, alle Blumen wieder einzusammeln, bis ihre Mutter kam und die Kleine mit hektischem Gesichtsausdruck in eine Bankreihe schob. Nachdem die Orgelmusik verstummt war, begann der Pastor mit der Trauungszeremonie.
„Warum hat der Mann da vorne so einen schwarzen Umhang an?“, wollte der kleine rothaarige Junge neben uns plötzlich wissen.
„Wirst du wohl still sein!“, ermahnte ihn seine Mutter und blickte sich verlegen um. Der Kleine schob trotzig seine Unterlippe vor, sagte aber nichts mehr. Pastor Grobian bemühte sich redlich, seiner Stimme einen ruhigen und feierlichen Klang zu geben. Trotzdem merkte man genau, wie aufgeregt er war, denn ab und zu hörten sich seine Worte seltsam piepsend an. Nachdem er seine erste Ansprache beendet hatte, begann eine Frau oben im Kirchenschiff „Ave Maria“ zu singen. Der rothaarige Junge drehte sich um und hielt sich dann mit beiden Händen die Ohren zu. „Mami, hört sich das schrecklich an!“, sagte er so laut, dass alle es hören konnten. Isabel und einige andere Hochzeitsgäste kicherten. Die Mutter des Kleinen lief rot an: „Kevin!“, zischte sie.
„Ist doch nicht so schlimm“, flüsterte ihr Isabel zu.
Die Frau nickte Isabel und mir dankbar zu, als in der anderen Ecke der Kirche ein Kleinkind zu plärren begann. Pastor Grobian blickte irritiert in die Ecke und dann gen Himmel, als wolle er den lieben Gott um Ruhe bitten. Dann zog er nochmals sein Taschentuch hervor und tupfte seine Stirn ab. Als die Sängerin ihr „Ave Maria“ beendet hatte, hörte das Kleinkind sofort auf zu
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