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Maenner und andere Katastrophen - Roman

Maenner und andere Katastrophen - Roman

Titel: Maenner und andere Katastrophen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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unerwarteterweise hellem Tageslicht ausgesetzt war. Der Kopf war eine so gelungene, detailgetreue Arbeit, dass es schwer zu erklären ist, was ich dann tat.
    Ich öffnete das Küchenfenster, nahm Holgers Kopf in die rechte Hand und schleuderte ihn mit voller Wucht von mir. Er klatschte mit einem schmatzenden Laut an die liebevoll restaurierte Fassade des gegenüberliegenden Hauses. Ein Teil von ihm blieb unterhalb des Fenstersimses kleben, der andere rieselte zum Bordstein hinab.
    Die Luft um mich herum begann plötzlich für etwa eine Sekunde zu flimmern und zu wispern. Hier schien tatsächlich Magie im Spiel zu sein, auch wenn dieser Zauber nicht in dem Hexenbuch beschrieben worden war. Magie oder nicht, fest steht jedenfalls, dass es mir von diesem Augenblick an schlagartig besser ging. Der Nebelschleier um mich herum hatte sich verzogen.
    Ich atmete tief durch und sah mich tatendurstig in meiner Wohnung um. Dann krempelte ich die Ärmel hoch, schmiss die erste Ladung Wäsche in die Maschine, füllte drei Mülltüten mit leeren Eiskartons und Chipstüten und spülte vierundzwanzig Eislöffel. Hinterher saugte ich einen Staubsaugerbeutel voller Chipskrümel aus und unter dem Bett hervor, wechselte die Bettwäsche und warf den Bestseller der cleveren, alten Engländerin ins Altpapier. Anschließend stellte ich mich unter die Dusche, wusch mir die Haare und zog saubere, gebügelte Klamotten an.
    »Sie erinnern mich irgendwie an meine Schwester, wie sie früher mal war«, meinte Rebecca, als ich ihr eine Tüte Chips und eine Packung Walnusseis in den Laden brachte, für die ich in meinem künftigen Leben keine Verwendung mehr haben würde.
    »Vergleichen Sie mich nicht mit dieser traurigen Gestalt«, antwortete ich und fuhr mit dem Rad zu einem Geschäft für Bastelbedarf.
    Dort gab ich mein ganzes Geld für kiloweise Luft trocknende Kindergartenmodelliermasse und Plakatfarben aus, mit denen ich die wundervollsten Marionetten der nördlichen Hemisphäre zu erschaffen gedachte. Schließlich hatte ich gerade erkannt, dass mein Talent auf keinen Fall brachliegen durfte.
    Als ich aber später an einer Möhre kauend über meinem nächsten Marionettenkopf saß, erlebte ich eine weitere Überraschung. Offensichtlich war der Holgerklumpen unter magischen Umständen, gewissermaßen ohne mein Zutun, entstanden. Zum Beweis scheiterten meine ersten Versuche, einen annähernd perfekten Kopf zu modellieren, kläglich. Bis zehn Uhr hatte sich eine Reihe von unförmigen Klumpen mit Henkeln, welche die Ohren darstellen sollten, angesammelt. Trotzdem wollte ich noch nicht aufgeben. Das Telefon klingelte. Ich zuckte nicht mal zusammen. Zu spät, Holger, ich habe gerade eingesehen, wie unsinnig es war, um dich zu trauern.
    Aber es war nicht Holger. Es war Kai-Uwe. Kai-Uwe Friedmann. Der Junge, von dem ich meinen ersten Kuss bekommen und dessen Namen ich monatelang abends vorm Einschlafen beglückt vor mich hingemurmelt hatte. Kai-Uwe Friedmann. Seinetwegen war damals sogar die Tanzschule Pickel und Strauß zeitweise zu einem wundervollen Ort geworden. Kai-Uwe hatte Gesang in Freiburg studiert und war seit diesem Semester wieder in Köln, um an der Musikhochschule sein Konzertexamen zu machen. Ich hatte immer gewusst, dass er's zu was bringen würde.
    »Ja, wann sehen wir uns denn mal?«, fragte Kai-Uwe, nachdem wir einander ausgiebig versichert hatten, wie gut es uns ginge.
    »Wann immer du magst«, sagte ich. Ich war frei wie ein Vogel, oder nicht?
    Wir verabredeten uns für Samstag im Volksgarten.
    Als ich aufgelegt hatte, gelang mir plötzlich wieder wie von selbst ein Marionettenkopf. Er sah aus, wie Kai-Uwe in den guten, alten Pickel-und-Strauß-Zeiten ausgesehen hatte, ein bisschen wie ein Märchenprinz. Die Kirchenglocken schlugen Mitternacht, als ich den Kopf vorsichtig zum Trocknen auf die Fensterbank legte.

Zwischen Donnerstag und Freitag
    Wie jeden Donnerstag musste ich einen heftigen Kampf gegen meinen inneren Schweinehund ausfechten, bevor ich mich dazu aufraffen konnte, zur Probe in den Unichor zu fahren. Ich hatte große Lust zu schwänzen, aber man hatte sich ein neues Kontrollsystem ausgedacht, und ich hatte in diesem Semester schon zweimal gefehlt. Wir sangen »Das Paradies und die Peri« von Schumann. »Weh, weh, er fehlte das Ziel, es lebt der Tyrann, der Edle fiel.«
    Worum es ging, wusste ich nicht. Ich hatte die Probe verpasst, wo man uns die Handlung auseinandergesetzt hatte. Der Text allein konnte wenig

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