Maenner und andere Katastrophen - Roman
dass er sich weigerte, sich dem Spiel der Dutzendschaften anderer Kinder anzuschließen, und nicht von meiner Seite wich. Er war auch der Einzige, dem mein Kleid gefiel.
Ein livrierter Kellner lief zwischen den Tischen herum und goss Wein nach. Als er zum sechsten Mal kam, nahm ich mein Glas und stieß mit Nils an.
»Ich glaube fast, ich bin betrunken«, sagte ich.
»Was ist noch mal ›betrunken‹?«, wollte mein Tischherr wissen.
»Betrunken ist, wenn man so viel Alkohol getrunken hat, dass man nicht mehr richtig sprechen und gehen kann«, antwortete ich.
»Und warum trinken die Leute dann Alkohol?«, fragte Nils verständnislos.
Ich wusste es auch nicht. Nicht so genau.
Das Kind, das sich vorhin in meinen Erdbeeren verbissen hatte, hüpfte, um Aufmerksamkeit heischend, von Tisch zu Tisch. Als es bei uns ankam, traf es zum ersten Mal auf ernste Gesichter. Nils und ich mochten Babys im Allgemeinen nicht sehr und dieses im Besonderen überhaupt nicht, und wir hüteten uns, es durch Lächeln oder gar Worte zum Bleiben zu ermutigen. Ich raffte besorgt mein Kleid zusammen.
»Eideidei«, blubberte der kleine Butzendrisser durch einen Film von Spuckebläschen und lächelte herzergreifend, aber wir schauten nur finster zurück.
»Hau ab«, sagte Nils schließlich mürrisch.
»Dabbel, dabbel«, sagte das Kind beleidigt und torkelte davon.
»War wohl auch schon betrunken, das Baby«, empörte sich Nils, und ich lachte weinselig.
»Ist das ihre Tochter?«, fragte mich die Schwägerin eines Bruders der Mutter des Bräutigams, die neben uns saß, und deutete tadelnd auf Nils.
»Sie ist ein Junge«, verteidigte ich seine schönen, langen Locken. Nils warf bitterböse Blicke auf die Alte.
»Das ist eine garstige Hexe«, flüsterte er.
»Nein, die ist nur altmodisch«, flüsterte ich zurück.
»Ihr Sohn?«, fragte die Frau.
»Nein, das ist ein Kind von meiner Cousine, also von der Schwägerin des Bräutigams, der Schwester der Braut.«
»Haben Sie keine Kinder?«, fragte die Schwägerin des Bruders der Mutter des Bräutigams und setzte, als ich verneinte, missbilligend hinzu: »Aber Sie sind doch schon so alt.«
»Nun, das ist relativ«, sagte ich hochnäsig und war nun geneigt, mich Nils' Meinung anzuschließen.
»Du hast recht. Sie ist wirklich eine garstige, alte Hexe«, flüsterte ich ihm zu.
Nach dem Dessert kam der stiernackige Schwager der zweiten Frau des Brautvaters zu uns, um uns aufzufordern, sein selbst gedichtetes Lied vorzutragen.
Ich wollte mich mit Rebecca aufs Klo verdrücken, aber meine Mutter sagte, wir sollten keine Spielverderber sein.
»Du kannst doch so schön singen, mein Schätzchen«, behauptete sie und zerrte mich hinter den anderen her.
Vor der Tür des Restaurants hatte sich ein stattlicher Chor aus Faltenröcken, Polyacrylblusen und gestärkten Hemden eingestellt. Zwei Onkels stimmten unheilverkündend ihre Wandergitarren. Der Stiernacken verteilte Kopien mit seinem Liedtext an alle. Sie waren der Ordnung halber in farbigen Schnellheftern untergebracht, die wunderbar mit den Blusen und Ohrclips harmonierten. Meiner war türkis. Ich drückte ihn schaudernd an meine grasgrüne Brust.
Gesungen werden sollte zur Melodie eines Schlagers, den angeblich jeder kannte, ich glaube von Mousaka-Nana mit dem schwarzen Kassengestell.
»Schauuuuuuu misch bitte nischt so aaaaaan, du weißt es ja, isch kaaaaaaaaaan dir dann nischt widersteeeeeeheeeen«, hieß es im Original, und demgemäß hatte der poesiebegabte Onkel daraus gemacht: »Seeeeeeht einmaaal den Bräutigaaaam, er schaut die Braut lieb aaaaaan, kann ihr nischt widersteeeeeehehe-hehen«.
Zwischen dem Refrain lagen nicht weniger als vierunddreißig Strophen, die das Leben der beiden von vor der Geburt bis heute mit Lob besudelten. Mit der Metrik hatte man es dabei nicht so genaugenommen. Was an Silben zu viel war, wurde durch Verharren auf der Note eingeschoben, und was zu wenig war über mehrere Noten gezohohohogen.
Der Text übertraf meine kühnsten Erwartungen. Hier die Kurzfassung:
Sie lernten sich kennen, in der Tanzschule Malzer
bei Rumba und Foxtrott, bei Tango und Walzer.
Ihm gefielen ihre braunen Augen sofort,
auch ihr Herzchen bei seinem Anblick pocht.
Sie drehten so manches Ründchen zu zwein,
bis Ralf endlich wagte, um Simone zu frei'n.
Seeeeeht einmal den Bräutgaaaam, er schaut die Braut
lieb aaaaan, kann ihr nischt widersteeeeehehehehen.
Das Abi machten beide mit Zwei,
es war keine einzige Vier
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