Männerküsse: homoerotische Geschichten (German Edition)
eigenen Worte hallten in seinen Ohren wider, als wäre es gestern gewesen, dass er sie seinem Freund ins Gesicht geschrien hatte. Bei der Erinnerung an Florians wütenden Ausdruck kniff André die Augen zu und schüttelte den Kopf. Sie hatten sich oft gestritten, über völlig belanglose Dinge, und sich dabei immer weiter von dem entfernt, was so wichtig für sie war: Liebe, Vertrauen, Zusammenhalt.
»Ich fahre zu meiner Schwester, bleibe da ein paar Tage. Danach sehen wir weiter.«
Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monaten, und aus Monaten ein knappes Jahr. Beide waren zu stur gewesen, um sich zu entschuldigen, und so verloren sie den Anderen und André verlor auch sich selbst. Er seufzte, und die alte Dame ihm gegenüber blickte auf.
»Das wird ein Pullover für meine Enkeltochter«, sagte sie und sah stolz auf das Kunstwerk zwischen ihren Händen. »Zu Weihnachten.«
André nickte höflich und lehnte sich im Sitz zurück. Weihnachten. Das war in fünf Tagen. Das letzte Weihnachtsfest hatte André bei seiner Schwester verbracht. Kein gemeinsames Geschenke auspacken mit Florian, kein Leuchten in dessen blauen Augen, kein Glühwein trinken, kein Kuscheln im Bett. Florian fehlte André, und er hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, dass er zu dickköpfig war, um den ersten Schritt zu wagen. Wenn Florian es nicht schließlich getan hätte, dann säße André jetzt nicht hier im Zug und wäre auf dem Weg zurück zu ihm. Dort, wo er hingehörte.
Hastig griff André in seine Hemdtasche und prüfte, ob er noch da war. Es knisterte und seine Finger holten einen zusammengefalteten Zettel hervor. Nicht nur ein schöner Traum, sondern Realität. André atmete erleichtert aus, drückte sich enger gegen die Rückenlehne des Sitzes und faltete das Papier so vorsichtig auseinander, als könnte es zu Asche zerfallen. Alles sah noch fast so aus, wie zu dem Zeitpunkt, an dem André die Zeilen das erste Mal gelesen hatte. Das Papier war an einigen Stellen etwas dünner, vom vielen Darüberstreichen, und auch am Rand war die blaue Tinte ein wenig zerflossen. Aber der Inhalt war noch derselbe.
Mein lieber André,
Auch nach dem hundertsten Mal, ließen diese drei Worte Andrés Bauch kribbeln.
das ist jetzt mein 21. Versuch, Dir einen Brief zu schreiben. Die anderen liegen alle zerknüllt im Mülleimer. Der in der Küche, den ich nie leeren wollte und der einer der Gründe ist, wieso ich hier alleine sitze; an dem Tisch, an dem wir jeden Tag zusammen gegessen haben. Auf dem wir es mehrere Male ordentlich … ja. Und den Du zu meinen Geburtstagen immer mit Kuchen, Kerzen und Luftschlangen dekoriert hast.
Im letzten Jahr passierte kaum etwas an diesem Tisch. Ich esse nicht mehr zu Hause und wenn, dann lehne ich gegen die Küchenzeile und schaufele irgendetwas in mich hinein. Erinnerst Du Dich daran, als ich so sauer auf Dich war, weil Du Dich nicht gesünder ernähren wolltest? Jetzt bin ich derjenige, der immer Fastfood in sich reinstopft. Und hey, es schmeckt echt gut …
»Die Fahrscheine bitte«, wurde André in seinem Lesefluss unterbrochen und legte den Brief behutsam auf den Schoß, ehe er dem Bahnmitarbeiter sein Ticket zeigte und dieser mit einem Nicken zum nächsten Fahrgast ging. André fuhr fort.
… ganz besonders dieser Chicken Burger, den ich damals nicht mal mit einer Kneifzange angefasst hätte. Aber ich esse ihn. Und warum? Weil er mich an Dich erinnert. Eigentlich erinnert mich alles an Dich. Unsere Wohnung, unser Bett … Ich hab übrigens die fehlende Socke wiedergefunden. Die gestreifte, die Du so verzweifelt gesucht hast und mir dann vorwarfst, ich hätte sie aus Versehen in die Altkleidersammlung gegeben. Sie steckte in der Ritze zwischen den Matratzen, und seitdem ich sie gefunden habe, liegt sie unter meinem Kopfkissen. Manchmal in der Nacht hole ich sie hervor, streiche mit den Fingern darüber, denke an Dich und den ganzen unwichtigen Mist, über den wir uns gestritten haben. Das war alles so sinnlos, André. Vermutlich genauso sinnlos, wie dieser Brief. Lachst Du schon? Amüsiert Dich der Gedanke, dass ich mit einer Socke das Bett teile?
Nein, André hatte nicht gelacht, als er diese Worte zum ersten Mal las, ganz im Gegenteil. Einen Teil des nächsten Satzes konnte man deswegen kaum noch entziffern, aber André wusste noch genau, was dort geschrieben stand.
Eigentlich wollte ich Dir das alles gar nicht schreiben. Ich schweife ab. Ich hatte mir vorgenommen, mich kurz zu fassen. Aber André,
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