Männerlügen - warum Frauen immer die Wahrheit wissen wollen und Männer behaupten, dass es die gar nicht gibt
Seidenbändchen gebündelt, in einem Geheimfach des Sekretärs oder auf dem Speicher versteckt und Generationen später wieder entdeckt. Sie verschwinden stattdessen hinter PIN-Codes und Passwords im digitalen Nirwana, ohne zu verstauben, zu vergilben oder sonst wie dem Zahn der Zeit irgendetwas zum Beißen zu geben.
audrey1: hallo odysseus22. find’s ja toll, dass dein codename nicht mausebär06 oder hoppelhase69 ist. aber warum odysseus22? bist du ein bildungsprotz?
odysseus22: hi audrey1. odysseus ist wegen der suche.
audrey1: und 22?
odysseus22: vom provider zugeteilt. da waren wahrscheinlich schon 21 odysseuse (ist das die mehrzahl?) vor mir auf suche. und du, stehst du auf audrey hepburn?
Rainer hatte statt »Mehrzahl« zunächst »Plural« getippt, das dann aber geändert. Sie tasteten sich vorsichtig ab, beide darauf bedacht, keinen Fehler zu machen. Warum Amelie »Audrey« als ihren Codenamen gewählt hatte – nach der Schauspielerin Audrey Tautou aus dem Film ›Amelie‹ nämlich –, erklärte sie Rainer erst, nachdem die beiden beschlossen hatten, ihre E-Mail-Adressen auszutauschen und die Chat-Plattform zu verlassen. Noch am selben Abend, sie hatten nicht mehr als drei E-Mails ausgetauscht, griffen sie zum Telefon, hörten freudig erregt ihre Stimmen und bestätigten sich gegenseitig, dass sie noch nie so schnell auf einen anderen Menschen zugegangen waren. Es war ihnen in ihrem schüchternen Stolz nicht bewusst, dass dort, wo sie sich jetzt kommunikativ am Ziel fühlten, die Generation ihrer Eltern erst begonnen hatte. Rainer und Amelie folgten dem Mantra der Sabbel-Society, wonach desto mehr Liebe sich einstellen werde, je mehr man voneinander weiß.
Beide wollten sich deshalb das erste Mal unbedingt während des Tages treffen, auch um den unausweichlichen erotischen Riten eines abendlichen Datings zu entgehen und den Sex nicht zum Richter über ihre Beziehung zu machen. Das jedenfalls war Rainers unausgesprochenes Motiv. Allerdings hatte er den Treffpunkt fürs erste Date nicht sonderlich geschickt gewählt. Das Pergamon-Museum stürmen sonntagnachmittags – und tagsüber ging für beide eben nur der Sonntag – junge Familien und City-Weekend-Touristen. Das Ischtar-Tor, unter dessen Bogen sich beide treffen wollten, schien so belagert, als gelte es, Babylon zu erobern. Trotzdem erkannten Rainer und Amelie sich sofort, als sie sich, getrennt durch zwei, ihre Söhne huckepack tragende Väter nebst deren hochschwangeren Frauen, gegenüberstanden. Die sozialen Netzwerke, die so blöde klingen, weil die wörtliche deutsche Übersetzung des englischen
social
eher ans Malteser Hilfswerk denken lässt als an gesellschaftliche Kommunikationswerkzeuge, hatten ihnen hinreichende Steckbrief-Informationen geliefert, die nun rasch mit der Live-Erscheinung abgeglichen wurden.
Hoffentlich sagt er nicht »Tach«, dachte Amelie. »Tach« fand sie abweisend. Ihr Chef sagte »Tach«.
»Hi«, sagte Rainer und hoffte, dass sie ihm nicht die Hand gab.
Amelie küsste ihn formell und flüchtig auf die linke Backe und sagte, ohne ihm die Hand zu geben: »Hallo, Rainer.«
Was reden, wenn man nicht mailen oder twittern kann?, dachten beide. Sie standen sich inmitten des hallenden Lärms der Museumsbesucher einen Moment stumm gegenüber, blickten dann um sich. Wenigstens nicht intim, dachte Amelie.
»Wenigstens kann uns keiner vorwerfen, unser erstes Date hätte intim begonnen«, sagte Rainer.
»Genau das habe ich auch gerade gedacht«, sagte Amelie und dachte dann gleich, hoffentlich hält er das nicht für eine blöde Ranbanze.
»Liegt ja irgendwie auf der Hand«, sagte Rainer und fürchtete, das kaum begonnene Gespräch könne in einer Sackgasse enden.
»Erzähl mir, was du vom Ischtar-Tor weißt«, sagte Amelie.
»Vom Ischtar-Tor? Warum?«
»Weil unser Gespräch sonst in einer Sackgasse endet, noch bevor es begonnen hat«, sagte Amelie.
»Aber ich weiß nichts vom Ischtar-Tor«, sagte Rainer, beeindruckt vom Gleichklang der Gedanken.
Amelie hielt ihm ein Buch hin. »Der Museumsführer. Hab mir schon so was gedacht. Ich geh mal auf die Toilette und duziehst dir in den fünf Minuten rein, was da übers Ischtar-Tor drin steht, und wenn ich zurück bin, erzählst du mir’s, okay?« Ohne die Antwort abzuwarten, verschwand Amelie.
Na, das läuft ja super, dachte sich Rainer. Ich bestelle sie zu diesem blöden Tor und dann weiß ich gar nichts drüber und sie weiß, dass ich nichts drüber weiß, drückt mir
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