Männerlügen - warum Frauen immer die Wahrheit wissen wollen und Männer behaupten, dass es die gar nicht gibt
konnten, schon deshalb nicht, weil sie den Müll – Zeitungen, Kleider, Lebensmittel – nicht als Müll empfanden. Messies brachten immer Quote bei ›Voll das Leben‹. Der Ekel, den sie bei den Zuschauern auslösten, wurde nicht mit exotischem Getier, sondern mit überall präsenten, an und für sich harmlosen Gegenständen erzielt. Es war so etwas wie die Vampirisierung unserer Alltagswelt. Alte Zeitungen, leere Mayonnaise-Gläser, ausgedrückte Senftuben, geöffnete Tomatendosen verwandelten sich in ihrer verpilzten Anhäufung in eine Art Zivilisations-Tsunami, der das Publikum wohlig gruseln ließ. Die Requisiteure der Produktion hassten diese Geschichten, weil sie dieses ganze klebrige, dreckige, stinkende Zeug aus allen möglichen Abfalltonnen zusammentragen mussten. Denn die gezeigten Messies waren natürlich keine echten Messies, sondern auf Messies getrimmte männliche und weibliche Assis,Asoziale, die Rainer aus seinem DSDS-Register ausgesucht hatte. Und da war, wie der Producer nun maßregelte, Rainer ein schwerer Fehler unterlaufen. Die weibliche der beiden Messies, »die Dortmund-Nordstadt-Tusse, du weißt schon« – sie konnten in Berlin sämtliche Problemviertel deutscher Großstädte simulieren, genügend Verfall war ja da –, hatte in ihrer Selbstdarstellung vor der Kamera Fremdwörter verwendet, die der Producer nun wie Ekelwörter zitierte.
»Manisch depressiv, sozial marginalisiert, Prekariat! Ich dachte, mein Iltis pupst!«
Das Tier war Rainer neu. Pfeifende Schweine, bohnernde Hamster, priemende Mulis, klar. Von einem pupsenden Iltis als Sinnbild des Abscheus und der Überrumpelung hatte er noch nicht gehört. Einmal mehr begriff er, dass er es mit Kreativen zu tun hatte.
»Wir sind hier nicht auf ’ner Scheißuni, Rainer«, tobte der Producer weiter, »wir sind hier im Scheißleben und bei uns kommen keine Scheißsozialpädagogen zu Wort, sondern Scheißbeschissene. Eiserne Regel. Und warum ist das so? Weil der einzige Grund, wieso uns die Leute anschalten, ist, dass sie Beschissene sehen wollen, denen es noch beschissener geht als ihnen selbst. Für uns ist Hartz IV schon Traumschiff, okay? Unsere Zuschauer wissen, dass sie nicht nach oben aus der Kiste rauskommen, aber sie ahnen, dass sie ganz schnell nach unten durchbrechen können. Und wie das da unten aussieht, das zeigen wir ihnen. Also brauchen wir Laternenpfahl ganz unten. Stattdessen suchst du eine aus …«
»Im Drehbuch stand das Zeug nicht drin, das haben die improvisiert«, wehrte sich Rainer und wusste dabei, dass er einen Fehler bei der Castingübernahme gemacht hat.
»Jetzt komm mir bloß nicht mit dem Drehbuch!«, fuhr der Producer fort. »Da steht nie fertiger Dialog drin, das weißt duganz genau. So was kann man gar nicht maulgerecht schreiben. Das müssen die schon selber bringen. Ich hab im CV-Sheet von der Dortmund-Nordstadt-Tusse nachgesehen. Die hat studiert, Rainer! So was darf dir einfach nicht passieren. Und dann der Juxvogel vorgestern. Wo hast du denn den her?«
»Wen meinst du?« Rainers Zunge verabschiedete sich gerade vom Zustand eines Feuchtgebiets.
»Na, der Chemnitz-Messie mit seinen dusseligen Wortspielereien. ›Lieber Messie als Wessi‹. Oder noch genialer: ›Ich bin ein Messie-Ass‹, wie ›Messias‹ gesprochen. Wie witzig ist das denn? Wir sind hier nicht die Darmstädter Jury für Sprache und Dichtung auf der Suche nach dem Unwort des Jahres, verstehst du? Ich hab ja auch studiert, Rainer, aber da muss man doch irgendwann mal drüber wegkommen!
If you can’t stand the heat, stay out of the kitchen!«
Rainer nahm einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche. Jetzt ging es um seinen Job, das spürte er. Hatte der Producer den Auftrag, ihn rauszuschmeißen? Und wenn, dann nicht wegen solcher Kleinigkeiten! Und wenn doch? Es gab genügend Leute da draußen, die seinen Job sofort übernehmen würden. Dass die Generation IMM nicht wählerisch war, wusste er von sich selbst. Beruflich blieb da keine Zeit für Charakter. Und dann: Wie blöde sehen Karriereleitern aus, deren unterste Sprossen schon einen Knick haben? Also ging Rainer zum Gegenangriff über, nicht mit der Schläue des Fuchses, sondern mit der Brachialgewalt des Wasserbüffels. Alles oder nichts.
»Als Erstes steckst du jetzt mal deinen ›Full Metal Jacket‹-Ton weg! Kubrick ist tot, okay? Bauer war gestern da, hat sich das Material auch angeguckt.«
Bauer war der Chef mit Eckbüro und Dienstwagen.
»Bauer war da?«
»Nichts
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