Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
dem Kopfe trug er einen hohen Hut, auf den er zwei Fasanenschwänze gesteckt hatte. Seine Kleider waren aus gestickter Seide, und er trug das Drachenquellenschwert um seine Hüften gegürtet. Er war dem Trunk und Spiel ergeben und hatte eine lose Hand. Wer es mit ihm verdarb, der war nahen Unheils gewiß. Auch mischte er sich immer ein, wo unterwegs er Streitenden begegnete. So trieb er es jahrelang, und die ganze Gegend seufzte unter ihm.
Als einst ein neuer Amtmann in die Gegend kam, ging dieser erst im Stillen auf dem Land umher und fragte nach des Volkes Beschwerden. Da hörte er, es gäbe drei große Übel im Lande.
Darauf tat er grobe Kleider an und weinte vor der Tür Dschou Tschus. Der kam soeben aus dem Wirtshause, wo er sich betrunken hatte. Er schlug an sein Schwert und sang mit lauter Stimme.
Als er nach seinem Hause kam, da fragte er: »Wer weint denn da so jämmerlich?«
Der Amtmann sprach: »Ich weine ob der Not des Volks.«
Da sah Dschou Tschu ihn an und brach in lautes Lachen aus.
»Ihr irrt Euch, Freund«, sprach er. »Ringsum kocht der Aufruhr wie das siedende Wasser im Kessel. Nur unser Winkel hier ist ruhig und in Frieden. Die Ernte ist reich, und das Korn ist gut geraten, und jedermann geht fröhlich seiner Arbeit nach. Wenn Ihr von Not mir redet, gleicht Ihr dem Manne, der ohne Krankheit stöhnt. Wer seid Ihr überhaupt, dass Ihr, statt um Euch selbst, um andere Leute trauert, und was tut Ihr hier vor meiner Tür?«
»Ich bin der neue Amtmann,« sprach der andere, »seit ich vom Wagen stieg, habe ich mich in der Gegend umgesehen. Ich fand die Sitten gut und einfach, und jeder hat genug zur Kleidung und zur Nahrung. Das alles stimmt genau, wie Ihr es sagt. Doch rätselhafterweise, wenn die Alten sich versammeln, so seufzen sie und klagen stets.
Wenn man sie nach dem Grunde fragt, so sprechen sie: ,Drei Übel sind an unserem Ort.‹ Um die Beseitigung von zwei davon soll ich Euch bitten; vom dritten aber will ich lieber schweigen. Aus diesem Grund weine ich vor Eurer Tür.«
»Und welches sind die Übel denn?« erwiderte Dschou Tschu. ,,Sagt frei und offen alles, was Ihr wisst!«
»Das erste«, sprach der Amtmann, »ist der schlimme Drache bei der langen Brücke, der die Wasser schwellen läßt, dass Mensch und Vieh im Fluss ertrinkt. Das zweite ist der Tiger mit der weißen Stirn im Gebirge. Das dritte Übel, Herr, seid Ihr.«
Da stieg die Scham dem Manne ins Gesicht, und er sagte sich verneigend: »Ihr seid der Amtmann hier, o Herr, und habt solches Mitleid mit dem Volk. Ich bin am Ort geboren und mache unseren Ältesten nur Kummer. Was bin ich für ein Mensch! Ich bitte Euch, geht nach Hause! Ich will schon sorgen, dass es besser wird.«
Dann lief er spornstreichs ins Gebirge und stöberte den Tiger in der Höhle auf. Der machte einen Luftsprung, dass der ganze Wald erschüttert wurde wie von einem Sturm. Dann kam er brüllend angestürzt. Wild streckte er die Krallen aus, um ihn zu packen. Dschou Tschu trat einen Schritt zurück, da kam der Tiger gerade vor ihm von dem Sprung zur Erde. Mit der linken Hand nun drückte er des Tigers Hals zu Boden, und mit der rechten schlug er unablässig auf ihn ein, bis er ihn tot zur Erde streckte. Er nahm den Tiger auf den Rücken und kehrte mit ihm heim.
Dann ging er nach der langen Brücke. Er zog die Kleider aus und nahm sein Schwert zur Hand. So tauchte er ins Wasser. Kaum war er drinnen, so begann es wild zu brausen und zu zischen, und schäumend tobten die Wogen. Es klang wie rasendes Pferdegetümmel. Nach einer Weile kam ein Blutstrom aus der Tiefe vorgequollen, und das ganze Wasser wurde rot. Dann kam Dschou Tschu, den Drachen in der Hand, hervor getaucht.
Er ging und meldete dem Amtmann mit Verbeugung: »Dem Drachen habe ich den Kopf abgeschlagen, und den Tiger habe ich auch beseitigt. So habe ich glücklich das Gebot erfüllt. Nun will ich auf die Wanderschaft, dass auch des dritten Übels Ihr los und ledig seid. Herr, sorget für mein Land und mahnt die Ältesten, dass sie nun nicht mehr trauern.«
Und als er das gesagt, ging er unter die Soldaten. Er hat sich dann im Kampfe gegen Räuber einen großen Namen gemacht, und als einmal die Räuber, sich zu rächen, ihn hart bedrängten, also dass er sich nicht retten konnte, da neigte er sich nach Osten und sprach: »Der Tag ist nun gekommen, da ich mit meinem Leben meine Schuld bezahlen kann.« Dann bot er seinen Kopf dem Schwert und starb.
84. Wie über zwei Pfirsichen drei Helden
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