Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
vorhanden. Der Priester rollte sie zusammen, und es raschelte, wie wenn man ein Bild aufrollt. Dann steckte er sie auch zu sich und wandte sich zum Gehen.
Die Frau hielt ihn an der Türe auf und bat ihn unter Tränen, ihrem Mann das Leben wiederzugeben. Der Priester entschuldigte sich, das gehe über seine Macht. Die Frau begann noch heftiger zu klagen, warf sich zur Erde und blieb so vor ihm liegen.
Der Priester dachte lange nach, dann sprach er: »Meine Kunst reicht nicht aus, Tote zu erwecken; aber ich will Euch einen Mann sagen, der es vielleicht kann. Wenn Ihr hingeht und ihn bittet, werdet Ihr sicher Erfolg haben.« Auf die Frage, wer es sei, antwortete er: »Auf dem Markt ist ein Verrückter, der beständig im Kote herumliegt. Ihr könnt einmal versuchen, ihn durch Eure Bitten zu rühren. Wenn er Euch schmäht und mißhandelt, dürft Ihr nicht zornig werden.« Der Schwager der Frau hatte den Verrückten auch schon gesehen, so verabschiedete sich der Priester denn.
Der Schwager ging mit der Frau zusammen hin. Da begegneten sie einem Bettler, der auf der Straße wie ein Irrsinniger sang. Der Schleim floß ihm aus der Nase, und er starrte vor Schmutz, dass man ihm nicht nahen konnte. Die Frau rutschte auf ihren Knien zu ihm hin. Der Bettler lachte: »Schätzchen, hast du mich gern?« Die Frau klagte ihm ihr Leid. Da begann er zu lachen: »Es gibt doch genug Männer für dich, warum soll man den einen wieder lebendig machen?« Die Frau fuhr fort, ihm zu klagen. Da sprach er: »Komisch, wenn einer tot ist, von mir zu verlangen, ich soll ihn wieder lebendig machen. Bin ich denn der Höllenfürst?« Dann tat er böse und schlug mit seinem Stock nach der Frau. Die verbiss den Schmerz und ließ es sich gefallen. Allmählich sammelten sich die Marktleute und standen dicht wie eine Mauer umher. Der Bettler räusperte sich, spuckte in die Hand. Das hielt er ihr an den Mund und sagte: »Iß es!« Da stieg der Frau die Röte ins Gesicht, und es schien, als würde es ihr zu schwer. Doch eingedenk der Worte des Priesters, bezwang sie sich und schluckte es hinunter. Sie fühlte etwas Hartes die Kehle hinab gleiten wie ein runder Klumpen, das in der Brust steckenblieb.
Da brach der Bettler in lautes Gelächter aus: »Wirklich, Schätzchen, du hast mich gern!« Mit diesen Worten stand er auf, ging weg und bekümmerte sich nicht mehr um sie. Sie folgten ihm. Er ging in einen Tempel. Sie folgten ihm nach, auch dorthin, ihn zu suchen. Er war verschwunden. Man forschte vorn und hinten nach ihm. Keine Spur war vorhanden.
Beschämt und unwillig kehrte sie heim. Voll Trauer über den grausamen Tod ihres Gatten und voll Reue über die Schmach, der sie sich nutzlos unterzogen, brach sie in verzweifeltes Weinen aus, nur den Tod herbeisehnend.
Die Leiche des Mannes sollte gereinigt und zur Beerdigung vorbereitet werden. Die Leute im Haus standen abseits und sahen zu und wagten sich nicht heran. Die Frau aber umarmte die Leiche, ordnete die Eingeweide und weinte dabei. Sie weinte so heftig, dass ihr die Stimme im Halse steckenblieb und würgte. Plötzlich fühlte sie, wie der Klumpen in ihrer Brust nach oben stieg und herauskam, und ehe sie sich abwenden konnte, war er schon in die Brusthöhle des Toten gefallen. Entsetzt sah sie ihn an, da war es ein Menschenherz, das in der Brust hin und her zuckte. Der heiße Lebensatem strömte wie eine Rauchwolke hervor. Sie war aufs Äußerste überrascht und schloss mit beiden Händen die Wunde der Brust. Mit aller Macht musste sie drücken. Ließ sie auch nur ein wenig los, so kam die Luft zur Ritze strömend hervor. Da riss sie ihr seidenes Tuch auseinander und schlang es um ihn. Als sie dann mit der Hand den Leichnam befühlte, da erwärmte er allmählich. Sie deckte ihn mit einer Decke zu. Und als sie um Mitternacht wieder nach ihm sah, da war Atem in seiner Nase, und bei Tagesanbruch war er zum Leben zurückgekehrt. Nur sagte er, er habe ein verschwommenes Gefühl wie im Traum. Auch fühlte er einen dumpfen Schmerz in der Herzgegend. Die Wunde hatte sich geschlossen. Eine Narbe von der Größe eines Geldstückes hatte sich gebildet. Schließlich ward er wieder ganz gesund.
82. Die Sekte vom weißen Lotos
Es war einmal ein Mann, der gehörte der Sekte vom weißen Lotos an. Er verstand es, durch schwarze Künste die Massen zu betören, und viele, die nach seinen Zauberkünsten begehrten, nahmen ihn zum Lehrer.
Eines Tages wollte der Zauberer ausgehen. Da stellte er in der Halle eine
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