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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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Hochmut abstoßen.«
    Als Yang Su das hörte, da nahm er sich zusammen und erhob sich von seinem Platz und sprach leutselig mit ihm.
    Li Dsing überreichte ein Schriftstück, und er ließ sich mit ihm über alles mögliche ins Gespräch ein. Eine Dienerin von außerordentlicher Schönheit stand daneben. Sie hielt einen roten Wedel in der Hand und blickte unverwandt auf Li Dsing. Der verabschiedete sich und ging in die Herberge zurück.
    Um Mitternacht hörte er an die Tür klopfen. Er sah hinaus; da stand jemand in Hut und purpurnem Gewand vor der Tür, der trug an einem Stock einen Sack über der Schulter.
    Er fragte, wer er sei, und erhielt die Antwort: »Ich bin die Wedelträgerin des Yang Su.«
    Darauf trat sie ins Zimmer, zog die Überkleider aus und ihren Hut. Da sah er, dass es ein schönes Mädchen von achtzehn, neunzehn Jahren war.
    Sie neigte sich vor ihm, und als er ihren Gruß erwiderte, da hob sie an: »Ich bin schon lange im Hause Yang Sus und habe schon viel berühmte Leute gesehen, aber keinen, der Euch gleich käme. Ich will Euch dienen, wohin Ihr geht.«
    Li Dsing erwiderte: »Der Minister ist mächtig. Ich fürchte, wir stürzen uns ins Unglück.«
    »Er ist ein Leichnam, in dem noch ein wenig Atem übrig ist,« sagte das Wedelmädchen, »den braucht man nicht zu fürchten.«
    Er fragte sie nach ihrem Namen. Sie sagte, sie heiße Dschang und sei die Älteste.
    Wie er sie so ansah mit ihrem mutigen Benehmen und ihren vernünftigen Worten, da merkte er, dass sie ein Heldenmädchen sei, und sie beschlossen, heimlich zu entfliehen. Das Wedelmädchen zog wieder Männerkleidung an; sie setzten sich auf Pferde und ritten weg. Sie wollten nach Taiyüanfu.
    Am anderen Tage kehrten sie in einer Herberge ein. Sie ließen die Betten zurecht rücken und stellten einen Kochherd auf, um ihr Mahl zu kochen. Das Wedelmädchen stand neben dem Bett und kämmte ihr Haar. Das Haar war so lang, dass es bis auf den Boden reichte und so glänzend, dass man sich drin spiegeln konnte. Li Dsing war gerade hinausgegangen, die Pferde zu bürsten. Da tauchte plötzlich ein Mann auf, der hatte einen roten, lockigen Schnurrbart wie ein Drache. Er war auf einem lahmen Maultier geritten, warf nun seinen Ledersack vor dem Kochherd auf die Erde, nahm ein Kissen und legte sich aufs Bett und sah dem Wedelmädchen zu, wie sie sich kämmte. Li Dsing erblickte ihn und ward zornig. Aber das Wedelmädchen hatte ihn sofort durchschaut. Sie winkte dem Li Dsing zu, dass er sich zurückhalten solle; dann kämmte sie rasch ihr Haar zu Ende und drehte es in einen Knoten.
    Sie begrüßte den Gast und fragte ihn nach seinem Namen.
    Er sagte, er heiße Dschang.
    »Ich heiße auch Dschang,« erwiderte sie, »da sind wir also Verwandte.«
    Darauf verneigte sie sich vor ihm als ihrem älteren Bruder.
    »Wieviel Brüder seid ihr?« fragte sie dann.
    »Ich bin der dritte«, war die Antwort. »Und du?«
    »Ich bin die Älteste.«
    »Wie gut trifft es sich, dass ich heute eine Schwester gefunden habe«, sprach vergnügt der Fremde.
    Darauf rief das Wedelmädchen zur Tür hinaus nach ihrem Mann: »Komm her! Ich will dir meinen dritten Bruder vorstellen.«
    Da kam Li Dsing herbei und begrüßte ihn.
    Dann setzte man sich zusammen, und der Fremde fragte: »Was habt ihr denn für Fleisch?«
    »Hammelbeine«, war die Antwort.
    »Ich bin recht hungrig«, sprach der Fremde.
    Li Dsing ging auf den Markt, um Wein und Brot zu kaufen. Der Fremde zog seinen Dolch hervor, schnitt das Fleisch auf, und sie aßen zusammen. Als sie fertig waren, da fütterte er mit dem übrigen Fleisch das Maultier.
    Dann sprach er: »Der Herr Li scheint mir auch ein armer Ritter zu sein. Wie kommt Ihr denn mit meiner Schwester da zusammen?«
    Li Dsing erzählte, was sich zugetragen hatte.
    »Und wo wollt ihr denn jetzt hin?«
    »Nach Taiyüanfu«, war die Antwort.
    Der Fremde sprach: »Ach, mach mir doch noch eine Schüssel Wein zurecht! Ich habe da eine Würze für den Wein, und ihr könnt mithalten.«
    Damit öffnete er den Ledersack und nahm daraus einen Menschenkopf und Herz und Leber hervor. Dann zerschnitt er mit dem Dolch das Herz und die Leber und tat sie in den Wein.
    Li Dsing war entsetzt.
    Aber der Fremde sprach: »Das war mein schlimmster Feind. Zehn Jahre lang habe ich den Haß mit mir herumgetragen. Heute habe ich ihn umgebracht, und es reut mich nicht.«
    Dann sprach er weiter: »Ihr scheint mir kein gewöhnlicher Kerl zu sein. Habt Ihr davon gehört, dass es hier in der

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