Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Opfer gefeiert werden. Es sollen dreitausendsechshundert heilige Buddhistenpriester die Sutren verlesen, um den alten Drachen zu erlösen, damit er wieder zum Himmel aufsteigen kann und seine ursprüngliche Gestalt behalten darf. Aber die Schriften und Zaubersprüche in der Menschenwelt sind nicht wirksam genug. Man muss nach dem westlichen Himmel gehen und dort wahre Worte holen.«
Der Kaiser sagte zu, und der Gott des Großen Berges und die zehn Höllenfürsten erhoben sich und sprachen sich verbeugend: ,,Wir bitten zurückzukehren!«
Plötzlich öffnete Tai Dsung die Augen wieder, da lag er auf seinem kaiserlichen Bett. Darauf veröffentlichte er ein Bekenntnis seiner Schuld und ließ die heiligsten Buddhistenpriester rufen, um im westlichen Himmel die Sutren zu holen. Es war der Mönch vom Yangtsekiang mit Namen Hüan Dschuang, der, dem Befehle folgend, sich bei Hofe einstellte.
Dieser Hüan Dschuang hieß ursprünglich Tschen. Sein Vater hatte unter der Regierung des vorhergehenden Kaisers die höchste Prüfung bestanden und war mit dem Amt eines Kreisvorstehers am Yangtsekiang betraut worden. Er ging mit seiner Frau zusammen nach seinem neuen Amtsbezirk. Als sie mit ihrem Schiff den Fluss erreicht hatten, begegneten sie einer Räuberbande. Der Häuptling tötete das ganze Gefolge, warf den Vater Tschen in den Fluss, bemächtigte sich seiner Frau und seiner Amtsurkunde und begab sich unter falschem Namen in jene Kreisstadt und übernahm das Siegel. Alle Diener und Knechte, die er mit sich nahm, waren Glieder der Bande. Die geraubte Frau aber schloss er in einem verborgenen Turmgemache ein. Zu jener Zeit war die Frau schon seit drei Monaten guter Hoffnung. Darum blieb sie am Leben, obwohl sie am liebsten gestorben wäre, da sie hoffte, einen Sohn zu bekommen, der den Namen der Familie Tschen fortsetzen und den Frevel rächen könne.
Als nun die Zeit ihrer Niederkunft gekommen war, schützte sie Krankheit vor, damit der Räuber nicht zu ihr komme. Und so gebar sie einen Sohn. Die Diener und Dienerinnen aber waren lauter Vertraute des Räubers. So fürchtete sie denn, die Sache möchte ruchbar werden.
Nun war unten vor ihrem Turm ein kleiner Teich. Aus diesem Teich kam ein Bach hervor, der durch die Mauern floß bis in den Yangtse. Sie nahm ein Körbchen aus Bambus, verklebte die Ritzen und legte das Knäblein hinein. Dann biss sie sich einen Finger ab und schrieb mit ihrem Blute die Stunde und den Tag der Geburt auf einen Seidenstreifen und fügte bei, dass der Knabe, wenn er zwölf Jahre alt sei, kommen und sie retten solle. Dann wickelte sie den abgebissenen Finger in den Seidenstreifen und legte ihn neben den Knaben in das Körbchen, und zur Nachtzeit, als kein Mensch um den Weg war, setzte sie das Körbchen in den Bach. Es schwamm hinaus der Strömung nach bis in den Yangtsekiang. Dort trieb es weiter bis an das Kloster auf dem Goldberge, der als eine Insel mitten im Flusse liegt. Da fand es ein Priester, der gegangen war, um Wasser zu schöpfen. Er fischte es auf und brachte es ins Kloster.
Als der Abt die blutige Handschrift sah, befahl er den Priestern und Lehrlingen, niemand etwas von der Sache zu sagen. Und er zog das Knäblein auf im Kloster.
Als es fünf Jahre alt war, da unterwies er es im Lesen der heiligen Schriften. Der Knabe war klüger als alle seine Mitschüler, verstand bald den Sinn der heiligen Schriften und drang immer tiefer in ihre Geheimnisse ein. So wurde er denn zu den Gelübden zugelassen, und als ihm das Haupthaar geschoren wurde, erhielt er den Namen ,,der Mönch vom Yangtsekiang«.
In seinem zwölften Jahre war er stark und groß wie ein erwachsener Mann. Der Abt, der wußte, welche Pflicht ihm noch zu erfüllen oblag, berief ihn in ein stilles Zimmer. Dort nahm er die blutige Handschrift und den Finger hervor und gab ihm beides.
Als der Mönch die Schrift gelesen hatte, da warf er sich zur Erde und weinte bitterlich. Dann dankte er dem Abt für alles, was er an ihm getan hatte. Er machte sich auf nach der Stadt, in der seine Mutter wohnte. Er lief rings um das Amtsgebäude herum, schlug auf den Holzfisch und rief: »Erlösung von allem Leid! Erlösung von allem Schweren!«
Seit der Räuber, der seinen Vater ermordet hatte, unter falschem Namen jenes Amt erschlichen, hatte er es sich angelegen sein lassen, durch mächtige Verbindungen sich dauernd in dem Amte festzusetzen. Die Frau aber, die nun schon über zehn Jahre bei ihm ausgeharrt hatte, ließ er allmählich etwas
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