Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
freier.
An jenem Tag war er in Amtsgeschäften auswärts. Die Frau saß zu Hause, und als sie draußen vor der Tür den Holzfisch so eindringlich schlagen hörte und die Erlösungsworte vernahm, da sprach die Stimme des Herzens in ihr. Sie sandte der dienenden Mädchen eine, den Priester herein zu rufen. Er trat zum hinteren Tore ein. Und als sie ihn nun erblickte, wie er Zug um Zug seinem Vater glich, da konnte sie sich nicht länger halten; die Tränen brachen ihr in Strömen hervor. Da merkte der Mönch vom Yangtsekiang, dass es seine Mutter war. Er nahm die blutige Handschrift hervor und gab sie seiner Mutter.
Die streichelte ihn und sagte schluchzend: »Mein Vater ist ein hoher Beamter, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat und in der Hauptstadt weilt. Es war mir aber nicht möglich, ihm zu schreiben, weil dieser Räuber mich streng gefangen hält. So habe ich denn mein Leben gefristet, wartend bis du kämst. Nun eile nach der Hauptstadt und räche deinen Vater, so wird auch mir der Tod kein Leid mehr sein. Du musst aber schnell machen, damit niemand etwas erfährt.«
Eilends ging nun der Mönch von dannen. Er kehrte zunächst in sein Kloster zurück, um sich von seinem Abt zu verabschieden; dann ging er nach der Hauptstadt Sianfu.
Zu jener Zeit war sein Großvater schon gestorben. Aber es lebte ihm noch ein Oheim, der war bekannt bei Hofe. Der nahm Soldaten und machte dem Räuber ein Ende. Die Mutter aber hatte sich erhängt.
Seit jener Zeit lebte der Mönch vom Yangtse bei einer Pagode in Sianfu und war bekannt unter dem Namen Hüan Dschuang. Als der Kaiser jenen Befehl ergehen ließ, war er etwa zwanzig Jahre alt. Er trat vor den Kaiser; da ehrte ihn dieser als Lehrer. Dann machte er sich auf den Weg nach Indien.
Siebzehn Jahre blieb er weg. Drei Sammlungen von Büchern brachte er mit, und jede Sammlung enthielt fünfhundertvierzig Rollen. Damit trat er vor den Kaiser. Der Kaiser war hoch erfreut und schrieb mit eigener Hand ein Vorwort zu der heiligen Lehre, in dem er all diese Geschichten aufzeichnete. Dann wurde das große Opfer veranstaltet, um den alten Drachen zu erlösen.
93. Der herzlose Gatte
Hangtschou war früher die Hauptstadt des südlichen China. Deshalb hatten sich viele Bettler dort zusammengefunden. Die Bettler pflegten einen Führer zu wählen, der amtlich bestätigt wurde zur Aufsicht über die Ausübung des Bettelns. Er hatte darüber zu wachen, dass die Bettler die Einwohner der Stadt nicht belästigten. Er bekam von allen Bettlern ein Zehntel ihrer Einnahmen. Bei Schnee und Regenwetter, wenn man nicht auf den Bettel konnte, hatte er dafür zu sorgen, dass die Bettler etwas zu essen bekamen, ebenso hatte er die Hochzeiten und Beerdigungen zu leiten. Die Bettler aber gehorchten ihm in allen Stücken.
In Hangtschou nun war solch ein Bettlerfürst mit Namen Gin, in dessen Sippe hatte sich das Amt schon seit sieben Geschlechtern weiter vererbt. Was sie an Bettelpfennigen erhielten, hatten sie auf Zinsen ausgeliehen. So wurde das Haus allmählich wohlhabend und schließlich sogar reich.
Der alte Bettler hatte mit fünfzig Jahren seine Frau verloren. Er hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen namens Goldtöchterchen. Sie war überaus schön von Gesicht, und er liebte sie wie einen Schatz. Von Jugend auf war sie in den Büchern bewandert. Sie konnte schreiben, dichten und Aufsätze machen; auch war sie in weiblichen Handarbeiten erfahren, geschickt in Gesang und Tanz, in Flöten- und Zitherspiel. Der alte Bettlerfürst wollte für seine Tochter unter allen Umständen einen Gelehrten als Bräutigam. Aber weil er Bettlerfürst war, so mieden ihn die vornehmen Familien, und mit den geringeren wollte er nichts zu tun haben. So kam es denn, dass das Mädchen achtzehn Jahre alt wurde und noch nicht versprochen war.
Zu jener Zeit lebte in Hangtschou bei der Friedensbrücke ein Gelehrter namens Mosü. Er war zwanzig Jahre alt und allgemein beliebt wegen seiner Schönheit und Begabung. Seine Eltern waren beide tot, und er war so arm, dass er kaum zu leben wußte. Haus und Hof waren längst verpfändet oder verkauft, und er wohnte in einem verlassenen Tempel, und mancher Tag verging, wo er hungrig zu Bett musste.
Ein Nachbar hatte Mitleid mit ihm.
»Der Bettlerfürst hat ein Kind namens Goldtöchterchen,« sagte er eines Tages zu Mosü, »sie ist über alle Maßen schön. Auch ist er reich und hat Geld und keinen Sohn, der ihn beerbt. Wenn du in seine Familie einheiraten
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