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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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Antlitz fassen wollen. Wie gebannt sah er sie an, unbekümmert um die Neugierde der andern. Da enteilte sie lachend und sprach zu der Dienerin: »Dieser Herr hat blitzende Diebsaugen.« Die Blume ließ sie niederfallen. Voll Sehnsucht nahm er sie an sich; verlorenen Sinnes, voller Unruh kam er heim. Dort barg er seine Blume unter dem Kissen und entschlummerte.
    Von da an sprach er nichts und aß auch nichts mehr, recht zur Sorge seiner Mutter. Die opferte und betete für ihn; aber er wurde schmal und kam von Kräften. Wohl gab der Arzt ihm Arznei, das Böse zu vertreiben; doch da verlor er sich erst recht.
    Zufällig kam da einmal Wu, und den beauftragte die Mutter, auszuforschen, was denn sei. Als Wu zum Bett des Kranken kam, entrollten dem bei seinem Anblick Tränen. Wu ging herzu und sprach beruhigend auf ihn ein, bis er den ganzen Sachverhalt erzählte. Wu lächelte: »Du bist in deinem Kopf auch gar zu närrisch. Die Erfüllung deines Wunsches ist nicht schwer. Ich werde nach ihr fragen. Wenn sie so zu Fuß dort vor dem Dorf herumspazierte, ist sie kaum aus vornehmer Familie. Ist sie nicht verlobt, so löst sich sicher alles noch zu allgemeinem Wohlgefallen. Andernfalls — denke ich — für gute Gaben wird sie wohl zu deinem Willen sein. Du denk jetzt nur an dein Befinden. Das andere aber überlasse mir!« Als Wang das hörte, musste er wohl gegen seinen Willen wieder lächeln. Wu ging fort und berichtete der Mutter. Dann begann er diesem Mädchen nachzuforschen. Doch umsonst. Er kam auf keine Spur, so dass die Mutter Wangs sehr traurig wurde und sich keinen Rat mehr wußte. Aber ihres Sohnes Antlitz blieb nun heiter seit den Worten Wus; er konnte sogar wieder essen. Eines Tages kam sein Vetter wieder, und er fragte ihn, was er entdeckt habe. Der hub mit Lügen an: »Gefunden habe ich sie. Sie ist die Tochter meiner Tante, also eine Base auch von dir. Sie ist noch nicht verlobt. Wenn auch im Hinblick auf eine Vermählung Raum für mancherlei Bedenken sein mag wegen eurer nahen Blutsverwandtschaft, ihre Eltern werden sicher einverstanden sein, wenn sie nur erst den ganzen Sachverhalt erfahren.« Da stieg dem jungen Wang die Freude wohl bis zu den Augenbrauen, und er fragte nach der Wohnung. Wu — vermessen wie er war — erklärte: »Auf dem Südwestberg. Zwei Meilen wohl von hier.« Als Wang ihn dann beschwor, die Sache weiter zu besorgen, versprach ihm jener alles gerad heraus und ging.
    Wang schritt nun täglich fort in der Gesundung. Er griff nach der Blume unter seinem Kissen, und er sah sie an. Sie war wohl trocken, aber unversehrt, und er ließ seinem Denken freien Lauf und spielte mit der Blume so, als wäre sie das Mädchen. Er wurde böse, dass sein Vetter so lange ausblieb. Er sandte Botschaft; aber Wu gebrauchte Ausflüchte und kam nicht mehr. Der junge Wang ward mißmutig und beunruhigt. Da besann er sich, dass eigentlich zwei Meilen gar nicht viel bedeuten, dass man darum nicht auf fremde Gnade angewiesen sei. Die Blume in dem Ärmel machte er sich trotzig auf den Weg.
    Es wußte niemand was davon; er ging allein und traf auch niemand, den er hätte nach dem Wege fragen können. Als er zwei Meilen in der Richtung nach dem Südwestberg gegangen war, türmten sich vor ihm die Felsen auf. Erfrischend wirkte dort das helle Grün, es war ganz still, nur die Vögel flogen hin und her. In der Ferne tief im Tal sah man ein kleines Dörfchen wie in einem dichten Garten stehen. Dort ging er hin. Nicht viele Häuser waren da, doch wirkten sie recht hübsch und anmutig unter den Strohdächern. Im Norden stand ein Haus, vor dessen Tür Trauerweiden wuchsen. Pfirsich- und Aprikosenbäume, untermischt mit schlankem Bambus, überragten seine Mauer, hinter der die Vögel zwitscherten und sangen. Er stieg auf einen großen, glatten, reinen Felsblock, der der Tür gegenüber stand, um sich dort auszuruhen. Plötzlich hörte er hinter der Mauer eine weiche, feine Mädchenstimme langgezogen einen Namen rufen, und da sah er auch das Mädchen, gegen Westen gehend, einen Zweig mit Aprikosenblüten in den Händen, den es sich gebeugten Kopfes in das Haar zu stecken mühte. Doch als sie da den Jüngling sah, hielt sie ein wenig an und lächelte und ging ins Haus, und ihre Finger spielten mit dem Zweige. Er konnte sehen, dass es eben jenes Mädchen war, das er auf dem Laternenfest getroffen hatte. Da kam unvermittelt große Freude in sein Herz, nur führte ihn kein Weg zu ihr. In der Tür war niemand, an den er sich da

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