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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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hätte wenden können, und so saß und lag und ging er nun den ganzen Tag umher bis gegen Abend, vollen Herzens, und er dachte nicht an Durst und Hunger. Manchmal nur sah er ein Mädchen, das wohl nach ihm spähte und sich wunderte, dass er nicht gehe. Plötzlich aber kam auf einen Stock gestützt ein altes Weiblein heraus, erblickte ihn und sprach: »Wo kommt Ihr her? Ich höre, dass Ihr seit dem frühen Morgen hier draußen wartet. Was gedenkt Ihr denn zu tun? Habt Ihr keinen Hunger?« Der Jüngling stand rasch auf, verneigte sich vor ihr und sprach: »Verwandte möchte ich besuchen.« Er musste es zweimal sagen, bis die schwerhörige Alte ihn verstand; dann fragte sie ihn nach dem Namen seiner werten Anverwandten. Als er den nicht wußte, lachte sie und lud ihn zu sich ein: er müsse den Besuch ja doch verschieben. Erfreut ging er der Alten nach durchs Tor und auf dem Weg, der ganz von weißen Steinen war und den in dichten Büscheln rote Blumen rings umsäumten. Die Wände in den Räumen innen waren weiß und glatt wie Spiegel. Durch die Fenster hingen Blütenbüsche eines Apfelbaumes. Kissen, Teppiche, die Tischchen und das Bett, es war da alles rein und schön. Während auf Geheiß der Alten eine Dienerin das Mahl bereitete, erzählte er von sich und seinen Anverwandten. Da fragte ihn die Alte plötzlich: »Heißt Euer Großvater nicht Wu?« Nachdem er es bejahte, erklärte sie: »Dann seid Ihr ja mein Neffe! Eure Mutter ist meine jüngere Schwester. Weil wir diese Jahre her in sehr bescheidenen Verhältnissen leben mussten und keinen Mann im Hause haben, hörte der Verkehr mit der Familie auf. Ihr, mein Neffe, seid so groß geworden, dass ich Euch gar nicht wiedererkannt habe.« Er erwiderte: »Ich bin jetzt gerade wegen der Tante gekommen und habe in der Eile den Namen vergessen.« — »Ich heiße Tsin«, so sagte sie, »und habe keine Kinder. Nur ein kleines Mädchen ist noch da, das von der Nebenfrau geboren wurde. Ihre Mutter hat sich nun wieder vermählt und hat sie mir zum Aufziehen gelassen. Sie ist durchaus nicht dumm; nur hat sie wenig Unterricht genossen und kennt den Ernst des Lebens nicht. Warte ein wenig, und ich will sie holen, dass sie dich begrüßt.« Da kam die Dienerin und richtete das Mahl. Er aß, dann rief die Alte nach dem Mädchen. Lange Zeit verging, dann hörte man von draußen unterdrücktes Kichern. Die Alte rief: ,,Ying Ning, es ist dein Vetter da, hörst du nicht auf mit deinem Lachen draußen!« Die Dienerin schob sie herein. Sie hielt sich ihren Mund zu, konnte aber nicht im Lachen innehalten. Die Alte machte strenge Augen: »Ein Gast ist da, und du lachst immerzu. Was soll das heißen!« Da brach das Lachen ab; das Mädchen richtete sich auf, und Wang verneigte sich vor ihr. Die Alte sprach: »Das ist dein Vetter. Man gehört zur gleichen Familie und kennt sich noch nicht. Das ist eine Schande!« Der Jüngling fragte: »Wie alt ist denn die Base?« Die Alte hörte nicht; da lachte Ying Ning wieder so, dass sie nicht schauen konnte. Da sprach die Alte: »Nun siehst du, dass sie nichts gelernt hat! Sie ist schon sechzehn Jahre alt, und sie benimmt sich närrisch wie ein Kind!« — »So ist sie eben ein Jahr jünger, als ich bin«, erwiderte der Jüngling. »Dann bist du ja schon siebzehn«, sprach die Alte. »Wer ist deine Frau?« Er sagte ihr, dass er noch keine habe, worauf sie meinte: »Wie ist denn das möglich, dass du bei deinen Talenten und deinem Aussehen nicht verlobt bist? Auch Ying Ning hat keinen Mann, ihr würdet recht gut zueinander passen. Schade, dass das Hindernis der nahen Verwandtschaft da ist!« Der Jüngling sagte nichts, er sah nur Ying Ning an und hatte keine Zeit, woanders hinzuschauen. Da flüsterte die Dienerin Ying Ning ins Ohr: ,,Die blitzenden Diebsaugen hat er noch immer«, worauf Ying Ning erneut in Lachen ausbrach. Die Dienerin sah sie an und sagte: »Wir wollen sehen, ob die grünen Pfirsiche schon blühen!« Darauf erhob sich Ying Ning, hielt sich den Ärmel vor den Mund und ging mit kleinen Schrittchen zur Tür hinaus.
    Die Alte ließ dann für den Jüngling Bettzeug richten und sagte: »Wir wollen dich noch ein paar Tage dabehalten. Wenn du Langeweile hast, so mag der kleine Garten hinterm Hause dir Zerstreuung bieten. Auch sind Bücher noch zum Lesen da!«
    Am anderen Tag ging Wang in den Garten. Der Rasen war einem Teppich gleich, und Pappelkätzchen lagen auf dem Weg umher. Ein kleines Gartenhaus stand da, von Blumen und von Büschen dicht

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