Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
war er wieder vollständig heil.
Das Mädchen nahm die Kugel wieder in den Mund und sagte: »Es ist gut.«
Dann eilte sie ins innere Gemach. Der junge Kung sprang auf, ihr zu danken.
Von seiner Krankheit war er nun wohl geheilt; aber seine Gedanken blieben immer an dem schönen Gesichtchen hängen. Die Bücher ließ er liegen und saß geistesabwesend da.
Sein Freund hatte es auch schon bemerkt und sprach zu ihm: »Heute ist es mir endlich gelungen, Euch eine hübsche Lebensgefährtin zu finden.«
Er fragte: »Wen?«
»Die Tochter meiner Tante, A-Sung. Sie ist siebzehn Jahre alt und gar nicht häßlich.«
»Sie ist sicher nicht so schön wie Giauna«, dachte Kung.
Dann summte er den Vers eines Liedes vor sich hin:
»Hat man das Meer einmal gesehen,
So ist der Flüsse Wasser seicht.
Sah man des Wu-Berges Wolken ziehen,
So findet man nichts, das ihnen gleicht.«
Der Jüngling lächelte. »Mein Schwesterchen Giauna ist noch zu jung«, sagte er. »Sie ist dazu die einzige Tochter meines Vaters, und er möchte nicht, dass sie nach auswärts heiratet. Aber meine Base A-Sung ist auch nicht häßlich. Wenn Ihr’s nicht glaubt, so wartet, bis sie im Garten miteinander spazieren gehen, da könnt Ihr sie heimlich erspähen.«
Kung legte sich unter das offene Fenster auf die Lauer, und richtig sah er Giauna ein anderes Mädchen an der Hand führen, die war so schön, dass es ihresgleichen nicht gab. Sie und Giauna sahen aus wie Schwestern, nur durch das Alter verschieden.
Der junge Kung war hoch erfreut und bat seinen Freund, den Heiratsvermittler zu machen. Der sagte zu. Am anderen Tag kam er auch schon und brachte unter Glückwünschen die Nachricht, dass alles in Ordnung sei. Es wurde ein besonderer Hof für das junge Paar hergerichtet und Hochzeit gefeiert. Dem jungen Kung war zumute, als habe er eine Fee geheiratet, und die Neuvermählten liebten einander unsäglich.
Eines Tages kam sein Freund aufgeregt zu Kung und sagte: »Der Eigentümer dieses Hauses kommt zurück, und mein Vater will nun wieder nach Schensi reisen. Der Abschied naht; das ist recht traurig.«
Kung wollte mit; aber sein Freund riet ihm, in seine Heimat zurückzukehren.
Kung erwähnte die Schwierigkeiten; aber der Jüngling sagte: »Darum braucht Ihr Euch nicht zu kümmern! Ich werde Euch begleiten.«
Nach einer Weile kam der Vater mit A-Sung und schenkte ihm hundert Lot Gold. Darauf ergriff der Jüngling ihn und seine Frau bei der Hand und hieß sie die Augen zumachen. Dann ging es im Sturmwind durch die Luft. Er merkte nur, wie ihm der Sturmwind um die Ohren sauste.
Nach einiger Zeit hieß es: »Nun sind wir da.«
Er öffnete die Augen und sah seine alte Heimat. Da wußte er, dass sein Freund kein menschliches Wesen war.
Fröhlich klopfte er an die Tür seines Hauses. Seine Mutter machte ihm auf, und als sie sah, dass er eine so hübsche Frau mitgebracht, da war sie hoch erfreut. Er wandte sich nach seinem Freunde um, doch der war schon verschwunden.
A-Sung diente nun ihrer Schwiegermutter mit großer Hingebung, und ihre Schönheit und Tugend waren weit und breit berühmt. Der junge Kung wurde bald darauf zum Doktor gemacht und erhielt ein Amt als Gefängnisaufseher in Schensi. Er nahm seine Frau mit sich; die Mutter aber blieb zu Hause, weil es ihr zu weit war. A-Sung gebar ihm einen Sohn.
Kung war jedoch mit einem durchreisenden Zensor in Unfrieden geraten. Er ward von ihm verklagt und seines Amts enthoben.
So trieb er sich eines Tages vor der Stadt umher; da begegnete er einem hübschen Jüngling, der auf einem schwarzen Maultier ritt. Als er genau zusah, war es sein alter Freund. Lachend und weinend fielen sie sich in die Arme, und der Jüngling führte ihn in ein Dorf. Inmitten dichter Bäume, die einen tiefen Schatten gaben, stand ein Haus, dessen Stockwerke bis in die Wolken ragten. Man sah auf den ersten Blick, dass es eine vornehme Wohnung war.
Kung erkundigte sich nun nach der Schwester Giauna, und es hieß, sie sei verheiratet. Er blieb über Nacht; dann ging er weg, um seine Frau zu holen.
Giauna war inzwischen auch gekommen; sie nahm das Söhnlein A-Sungs auf den Arm und sagte lachend: »Base, Ihr habt uns fremdes Blut in unseren Stamm gebracht.«
Kung begrüßte sie und bedankte sich nochmals für die Freundlichkeit, mit der sie damals seine Krankheit geheilt.
Lächelnd erwiderte sie: »Ihr seid inzwischen ein angesehener Mann geworden, und die Wunde hat sich längst geschlossen. Habt Ihr den Schmerz noch immer
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