Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
nichts daran, in den Staatsprüfungen Glück zu haben.«
Darauf nahm er den Becher und goß ihm wieder ein.
Dann wandte er sich an den Knaben: »Sieh mal nach, ob der alte Herr schon schläft! Schläft er, so kannst du im Stillen die kleine Hiang-Nu holen.«
Der Knabe ging. Der Jüngling nahm aus einem gestickten Futteral eine Laute hervor. Gleich darauf kam eine Dienerin herein, die war rot gekleidet und überaus schön. Der Jüngling ließ sie »Die Klage der Geliebten« singen. Die schmelzenden Töne rührten das Herz. Dann ließ er noch einen großen Becher herbeibringen, aus dem sie tranken. Die dritte Nachtwache war herbei gekommen, ehe sie sich schlafen legten.
Am anderen Morgen stand man frühe auf und machte sich ans Lernen. Der Jüngling war überaus begabt. Was er nur einmal vor sich gesehen, behielt er gleich im Gedächtnis. So machte er denn im Lauf von einigen Monaten bedeutende Fortschritte. Man folgte der alten Sitte, alle fünf Tage einen Aufsatz zu machen und nachdem er abgegeben war, ein kleines Trinkgelage zu veranstalten. Jedesmal wurde dabei die Hiang-Nu gerufen.
Eines Abends nun, als sie vom Weine schon etwas heiter geworden waren, blickte Kung die Hiang-Nu unverwandt an.
Der Jüngling erriet seine Gedanken und sprach zu ihm: »Ihr habt noch immer keine Frau. Früh und spät muss ich daran denken, wie ich Euch eine hübsche Lebensgefährtin verschaffen kann. Hiang-Nu ist die Dienerin meines alten Herrn, die kann ich Euch nicht geben.«
Kung sprach: »Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit. Aber wenn sie nicht ebenso schön ist wie Hiang-Nu, dann will ich lieber keine.«
Der Jüngling lachte: »Ihr seid doch noch recht unerfahren,« sagte er, »dass Ihr die für schön haltet. Euer Wunsch ist leicht zu erfüllen.«
So verging ein halbes Jahr, und es war eben die dumpfe Regenzeit gekommen. Da entstand auf der Brust des jungen Kung eine Geschwulst so groß wie ein Pfirsich, die über Nacht zur Größe einer Tasse anwuchs. Stöhnend vor Schmerzen lag er da und konnte weder essen noch schlafen. Der Jüngling war Tag und Nacht mit seiner Pflege beschäftigt, und auch der alte Herr erkundigte sich nach seinem Befinden.
Da sprach der Jüngling: »Diese Krankheit kann nur das Schwesterchen Giauna heilen. Schick’ doch bitte hin zur Großmutter, um sie zu holen!«
Der alte Herr war einverstanden und schickte seinen Knaben weg.
Am anderen Tag kam der Knabe wieder zurück mit der Nachricht: »Giauna wird kommen. Die Tante und die Base A-Sung kommen mit.«
Kurz darauf führte der Jüngling die Schwester herein. Sie war ungefähr dreizehn oder vierzehn Jahre alt, von berückender Schönheit und schlank wie eine Weide. Als der Kranke sie sah, da hatte er alle Schmerzen vergessen und wurde munter im Geist.
Der Jüngling sprach zu seiner Schwester Giauna: »Dies ist mein bester Freund, den ich wie einen Bruder liebe. Ich bitte dich, Schwesterchen, seine Krankheit zu heilen!«
Das Mädchen errötete verlegen; dann trat sie an das Krankenbett. Während sie ihm den Puls fühlte, da war es ihm, als entschwebten ihr Orchideendüfte.
Das Mädchen sagte lachend: ,,Kein Wunder, dass er diese Krankheit hat! Sein Herz schlägt allzu ungestüm. Die Krankheit ist schlimm, aber nicht unheilbar. Nur hat sich das geronnene Blut schon angesammelt, da geht’s ohne Schneiden nicht ab.«
Damit nahm sie ihre goldene Armspange vom Arm und legte sie auf die schmerzende Stelle. Ganz sachte drückte sie sie nieder, und die Geschwulst erhob sich wohl einen Zoll hoch über den Armring hinauf, so dass die ganze Geschwulst von dem Armring umschlossen war. Dann machte sie das Federmesser von ihrem seidenen Gürtel los, das eine Schneide hatte, so dünn wie Papier. Mit der einen Hand hielt sie den Ring, mit der anderen Hand nahm sie das Messer und fuhr ganz leicht am Ring unten herum. Schwarzes Blut quoll heraus auf Bett und Matte. Aber der junge Kung war so entzückt von der Nähe der schönen Giauna, dass er nicht nur keine Schmerzen fühlte, sondern nur fürchtete, die Sache möchte bald zu Ende sein und sie aus seiner Nähe verschwinden. Im Augenblick war das faule Fleisch abgeschnitten. Dann ließ sie Wasser kommen und wusch die Wunde rein. Sie nahm aus dem Mund eine kleine rote Kugel hervor und legte sie in die Wunde. Sie drehte sie einmal im Kreise, da war es ihm, als führe die Hitze in Dampf und Flammen heraus. Sie drehte sie noch einmal, da zuckte und juckte es, und als sie sie zum drittenmal gedreht hatte, da
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