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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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umschlossen. Langsam schlenderte er durch die Blumen, als er über sich von einem Baum herab ein Wispern hörte. Er sah auf, und Ying Ning saß dort und fing zu lachen an. Der Jüngling rief ihr zu: »Halt ein! Du fällst!« Sie aber kletterte herab und konnte sich vor Lachen gar nicht halten. Der Jüngling holte die Blume aus seinem Ärmel, sie Ying Ning zu zeigen, und sprach: »Du hast sie beim Laternenfest fallen lassen; deshalb habe ich sie aufbewahrt.« Sie fragte: »Was hast du dabei gedacht?« Da sagte er: »Ich wollte dir so meine Liebe zeigen, die dich nie vergisst. Jetzt aber lass mir Glücklichem Erbarmen widerfahren!« Das Mädchen sprach: »Das ist doch eine Kleinigkeit. Wenn du gehst, so will ich dir durch meine Magd hier von den Blumen aus dem Garten ein recht großes Bündel richten lassen, das du mit dir nehmen kannst.« »Du bist recht närrisch!« sagte da der Jüngling. »Warum soll ich nun närrisch sein?« — »Ich liebe doch nicht die Blume, sondern jene, die sie in der Hand gehalten hat.« Ying Ning sagte: »Das ist doch selbstverständlich, dass sich Verwandte lieben!« Wang entgegnete: »Die Liebe, von der ich spreche, ist nicht Verwandtenliebe, sondern eine Liebe zwischen Mann und Frau.« — »Ist da ein Unterschied?« — »Gewiß, da ist man nachts beisammen.« Das Mädchen dachte eine gute Weile mit gesenktem Haupte nach und sagte dann: »Ich pflege nicht mit anderen Leuten nachts zu schlafen!« Sie hatte noch nicht ausgeredet, da kam die Dienerin herbei; der Jüngling aber ging verwirrt von dannen. Erst später trafen sie sich wieder bei der Mutter. Die fragte, wo sie denn gewesen seien. Das Mädchen sagte: »Der Vetter möchte gern des Nachts mit mir beisammen sein!« Wang warf ihr, sehr verlegen, warnend einen Blick zu, worauf Ying Ning lächelte und nicht mehr weiter sprach. Die Alte hatte wohl zum Glücke nichts verstanden.
    Die Mahlzeit war beendet, als von Wangs Familie ausgesandte Leute mit zwei Eseln kamen. Nach langer Irrfahrt hatten sie den Herrn gefunden. Wang bat die Alte, Ying Ning zu erlauben, mit ihm heimzukehren zu der Mutter. Mit Freuden wurde ihm willfahren: »Nicht erst seit heute oder gestern«, hieß es, »war dies meine Absicht; es ist gut, dass du sie zu der Tante führen kannst, sie soll sie kennen lernen.« Dann rief die Alte Ying Ning, hieß sie ihre Sachen packen und mit ihrem Vetter gehen. Sie sorgte noch für Mundvorrat und sagte dann zu Ying Ning: »Die Familie deiner Tante hat Vermögen und kann leicht noch jemand mehr ernähren. Du brauchst gar nicht erst wieder heimzukommen. Lerne dort Anstand und Musik, damit du später deinen Schwiegereltern dienen kannst, und dann bemühe die Tante gleich, dir eine passende Partie zu finden!« So entließ sie Wang und Ying Ning.
    Bei ihrer Ankunft war Wangs Mutter sehr erstaunt über das schöne Mädchen und befragte ihren Sohn, wer es denn sei, worauf er sagte, es sei seine Base. Da sprach die Mutter: »Was Vetter Wu dir neulich sagte, war doch nur erlogen. Ich besitze keine Schwester mehr, und ich kann daher auch keine Nichte haben.« Ying Ning aber sagte: »Ich bin nicht das Kind der ersten Frau. Tsin hieß mein Vater. Als er starb, war ich noch in den Windeln, daher weiß ich weiter nichts.« Da sprach die Mutter: »Meine Schwester war an einen Tsin verheiratet, doch ist sie lange tot. Wie sollte sie auf einmal wieder leben?« Da kam der Vetter Wu, und Ying Ning zog sich vor ihm in das Haus zurück. Wu fragte ganz genau nach allem, dachte lange nach und fragte dann: »Das Mädchen heißt Ying Ning?« Befragt, woher er diesen Namen wisse, sagte er: »Es ist das eine unheimliche Sache. Als Tante Tsin gestorben war, da lebte noch der Onkel eine Zeitlang, bis ihn eine Füchsin behexte und er an der Auszehrung zugrunde ging. Die Füchsin aber hatte ihm ein Kind geboren namens Ying Ning, das dort auf dem Bett in seinem Wickelkissen lag, und das auch alle die Verwandten sahen. Auch später kam sie öfter wieder. Da hat man einen Teufelsbanner um einen Zauberspruch gebeten, den man an der Wand befestigte. Darauf hat die Füchsin sich das Kind genommen und ist fortgegangen. Sicher ist es das!« Im weiteren Gespräche hörten sie aus einem Zimmer nebenan ein lautes Lachen. Es war Ying Nings Lachen. Vetter Wu wollte sie sehen, und als die Mutter sie zu holen kam, da schüttelte das Mädchen sich vor Lachen, dass sie gar nicht schauen konnte. Erst als ihr die Mutter streng befahl hinauszugehen, konnte sie das Lachen

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