Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
nicht vergessen?«
Dann kam Giaunas Mann, und man lernte sich kennen. Schließlich ging man auseinander.
Eines Tages kam der Jüngling betrübt zu Kung. »Heute droht uns ein großes Unglück«, sprach er. »Ich weiß nicht, ob Ihr uns retten wollt.«
Kung wußte nicht, was es war; aber er sagte seine Hilfe mit Freuden zu. Da winkte der Jüngling die ganze Familie herbei, und sie verneigten sich draußen vor dem Saale.
Dann hub er an: »Ich will Euch die volle Wahrheit sagen: Wir sind Füchse. Es droht uns heute die Gefahr des Donners. Wenn Ihr uns retten wollt, so ist Hoffnung da, dass wir am Leben bleiben; wenn nicht, so nehmt Euer Kind und geht, damit Ihr nicht in die Gefahr verwickelt werdet.«
Kung aber schwor, dass er Leben und Tod mit ihnen teilen wolle.
Da bat er ihn, mit einem Schwert vor der Tür zu stehen, und sprach: »Wenn nun der Donner zu rollen beginnt, bleibt unbeweglich stehen.«
Plötzlich stiegen dunkle Wolken am Himmel auf, und der Himmel verdüsterte sich, als bräche die Nacht herein. Er blickte sich um, da waren die ganzen Gebäude verschwunden, und er sah hinter sich nur einen hohen Grabhügel, in dem eine große Höhle war, die sich im Dunkel verlor. Mitten in seinem Schrecken überraschte ihn der Donnerschlag. Heftiger Regen goß in Strömen, und ein Sturmwind erhob sich, der die größten Bäume entwurzelte. Es flimmerte ihm vor den Augen, und seine Ohren waren betäubt. Aber er hielt sein Schwert in der Hand und blieb unbeweglich stehen wie ein Fels. Plötzlich sah er mitten im schwarzen Rauch und Schein der Blitze ein Ungeheuer mit spitzem Schnabel und langen Klauen, das eine menschliche Gestalt davontrug. Wie er genauer hinblickte, da erkannte er an den Kleidern, dass es Giauna sei. Er sprang nach ihm empor und schlug mit dem Schwerte darnach, und sofort fiel es zur Erde. Ein heftiger Donnerschlag erschütterte den Boden, und tot stürzte Kung zusammen.
Danach klärte es sich wieder auf, und der blaue Himmel kam wieder hervor.
Giauna war wieder zu sich gekommen, und als sie den Kung neben sich tot liegen sah, da sprach sie schluchzend: »Er ist um meinetwillen gestorben, was soll ich länger leben!«
A-Sung kam auch hervor, und sie trugen ihn miteinander in die Höhle. Giauna hieß die A-Sung ihm den Kopf halten und ihren Bruder ihm den Mund öffnen. Sie selbst fasste ihn am Kinn und holte mit der Zunge ihre rote Kugel hervor. Dann drückte sie ihre Lippen auf die seinigen und hauchte ihn an. Da kam der Atem wieder in seine Kehle mit rasselndem Getön, und nach einiger Zeit kam er wieder zu sich.
So war denn die ganze Familie wieder beieinander, und keines hatte Schaden genommen. Sie erholten sich allmählich von ihrem Schrecken und waren ganz vergnügt, als plötzlich ein kleiner Knabe mit der Meldung kam, Giaunas Mann mit seinem ganzen Hause sei vom Donner getötet. Giauna brach weinend zusammen, und die anderen suchten sie zu trösten.
Schließlich sagte Kung: »Es ist nicht gut, dauernd unter den Gräbern zu weilen. Wollt ihr nicht mit mir nach Hause kommen?«
Darauf packten sie ihre Sachen zusammen und kehrten heim. Seinem Freunde und seiner Familie wies er einen verlassenen Garten zur Wohnung an, den sie sorgfältig abschlossen. Nur wenn Kung und A-Sung kamen, wurde der Riegel geöffnet. Giauna und ihr Bruder spielten dann mit ihnen Schach, tranken Wein und plauderten wie Glieder einer Familie.
Der kleine Sohn des Kung hatte aber ein etwas spitziges Gesicht, das an einen Fuchs erinnerte, und wenn er durch die Straßen ging, so drehten sich die Leute um und sagten: ,,Fuchskind«.
95. Ying Ning oder die lachende Schönheit
Wang Dsï Fu aus Lo Tiän in Gü Dschou hatte als Kind seinen Vater verloren. Er war sehr begabt und bestand schon mit vierzehn Jahren sein erstes Examen. Seine Mutter hütete ihn mit Sorgfalt und ließ ihn nicht einmal alleine von zu Hause fort. Sie verlobte ihn mit einer geborenen Siau, die vor der Hochzeit starb. Es war noch keine neue Verbindung eingeleitet, da traf es sich, dass er am Laternenfest auf Einladung seines Vetters Wu mit diesem ausging, um sich ein wenig zu unterhalten. Vetter Wu wurde noch am Ausgange des Dorfes von einem Diener seines Vaters abberufen. Wang Dsï Fu aber beschloß, klopfenden Herzens, allein diesem Drängen von Wolken lustwandelnder Mädchen zu folgen. Vor ihm ging ein junges Mädchen mit ihrer Dienerin. Ihre Finger spielten an einem Mandelzweig. Keine andere kam ihr gleich an Schönheit. Man hätte ihr lachendes
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