Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
die Nachbarn und Verwandten die Geschichte nicht recht glauben möchten. So ging sie mit dem Mädchen denn zu Rate. Die aber sprach: »Wenn Ihr nur wirklich einen Enkel bekommt, was braucht Ihr um der Menschen Meinung Euch zu kümmern!« Dabei beruhigte sich die Alte denn auch.
Als sich’s nun traf, dass Aduan wieder kam, da wußte sich das Mädchen vor Freude nicht zu lassen. Und auch der Alten stieg die Hoffnung auf, ihr Sohn sei vielleicht nicht wirklich gestorben. Sie grub im Stillen im Grabe ihres Sohnes nach, doch lagen da die Knochen alle noch. Sie fragte nun den Aduan. Da erst kam diesem zum Bewußtsein, dass er ein abgeschiedener Geist war. Er fürchtete, dass Abendrot, weil er kein Mensch sei, einen Abscheu hegen möchte. Darum befahl er seiner Mutter an, sie solle ja nichts wieder sagen. Und sie versprach es auch.
Sie sagte dann im Dorfe aus, der Leichnam, den man dazumal im Fluss gefunden, sei doch nicht ihres Sohnes Leib gewesen. Allein sie wurde der Befürchtung nicht ganz ledig, dass ein abgeschiedener Geist kein Kind bekommen könne.
Nicht lange darauf, so hielt sie trotzdem einen Enkel in den Armen. Sie sah ihn an: er unterschied sich nicht von anderen Knaben. Da erst ward ihre Freude voll.
Im Laufe der Zeit ward Abendrot allmählich gewahr, dass Aduan kein wirklicher Mensch war. »Warum hast du es nicht gleich gesagt?« sprach sie zu ihm; »abgeschiedene Geister, die des Drachenschlosses Kleider tragen, umgeben sich mit einer so festen Seelenhülle, dass sie sich nicht von Lebenden mehr unterscheiden. Wenn man im Schloss den Leim aus Drachenhorn bekommt, kann man die Knochen so zusammenkleben, dass Haut und Fleisch darüber wächst. Wie schade, dass wir das Mittel uns damals nicht verschaffen konnten!«
Aduan verkaufte seine Perle. Ein fremder Kaufmann bezahlte einen ungeheuren Preis dafür. So kam das Haus zu großem Reichtum. Als seine Mutter einst Geburtstag feierte, da tanzte er mit seiner Frau und sang, sie zu erfreuen. Das ward bekannt, und bis zum Königsschlosse drang die Nachricht. Der König wollte Abendrot nun mit Gewalt entführen. Aduan, besorgt, trat vor den König und sagte aus, er und sein Weib, sie seien beide abgeschiedene Geister. Man prüfte ihn, und da er keinen Schatten warf, so fand er Glauben. So wurde Abendrot denn nicht geraubt.
98. Edelweiss
Ho Huans Vater war früh gestorben. Er hatte ihn in zarter Jugend zurückgelassen. Der Knabe war überaus klug und begabt. Mit elf Jahren wurde er als Wunderkind in die Kreisschule aufgenommen. Seine Mutter liebte ihn über alle Maßen und ließ ihn nie zur Tür hinaus. Als er dreizehn Jahre alt war, kannte er noch nicht einmal seine verschiedenen Verwandten.
Im selben Dorfe lebte ein Friedensrichter namens Wu. Der beschäftigte sich mit geheimem Sinn, ging ins Gebirge und kam nicht wieder heim. Seine Tochter hieß Edelweiß. Sie war vierzehn Jahre alt und über alle Maßen schön. In ihrer Kindheit hatte sie heimlich ihres Vaters Bücher gelesen und sich das Leben der Ho Siän Gu zum Vorbild genommen. Als ihr Vater verschwunden war, entschloss sie sich, unverheiratet zu bleiben, und ihre Mutter konnte sie in diesem Entschlüsse nicht irremachen.
Eines Tages war Ho Huan vor der Tür und erspähte sie. Der Knabe, unwissend, wie er war, fühlte nur in seinem Herzen eine starke, unerklärliche Zuneigung aufkeimen. Er erzählte es seiner Mutter gerade heraus und bat sie, das Mädchen holen zu lassen. Die Mutter wußte, dass das nicht ging; darum machte sie Schwierigkeiten. Da wurde der Knabe traurig und verlor sich selbst. Die Mutter gab in ihrer Sorge den Wünschen ihres Sohnes nach und schickte jemand zu der Familie, um wegen einer Heirat Verbindungen anzubahnen. Dort wies man alles ab. Der Knabe musste nun bei allem, was er tat, an die Geliebte denken, und doch wußte er keinen Rat.
Da traf er eines Tages einen Taoisten unter der Tür. Der hatte eine kleine, fußlange Hacke bei sich. Der Knabe nahm sie in die Hand und sah sie an; dann fragte er, wozu sie diene.
Der Taoist erwiderte lächelnd: »Das ist zum Kräuterhacken. Das Ding ist klein; aber man kann die härtesten Steine damit zerteilen.«
Der Knabe glaubte noch nicht recht daran; da schlug der Taoist damit nach einem Mauerstein, und richtig fiel er auf den ersten Streich herunter und zerbröckelte. Der Knabe war verwundert. Er hielt das Ding in der Hand und mochte es gar nicht wieder hergeben.
Lächelnd sprach der Taoist: »Wenn du es haben willst, so will ich dir
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