Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
mehr!«
Gerührt von ihrer Treue fielen dem Siä die Tränen nieder. Die Diener eilten voller Freude zu den Eltern, ihnen die frohe Nachricht zu bringen. Als die es hörten, warteten sie nicht ab, bis die jungen Leute zu ihnen kamen, sondern liefen selber in das Haus des Sohnes, fassten sie bei der Hand und weinten. Der junge Siä war nun allmählich auch gesetzt geworden und ließ seinen Mutwillen. So ward die Liebe zwischen ihm und seiner Frau von Tag zu Tag aufrichtiger.
Einst sprach die Prinzessin zu ihm: »Früher, als du mich immer so schlecht behandeltest, da fürchtete ich, wir würden nicht beisammen bleiben bis ins Alter. Darum wagte ich nicht, einem unglücklichen Kinde das Leben zu geben. Nun ist das alles anders, und ich will dir einen Sohn gebären.«
Und richtig, nicht lange danach erschienen die göttlichen Schwiegereltern in roten Gewändern wieder im Haus, und tags darauf kam die Prinzessin nieder. Und zwei Söhne auf einmal konnte der glückliche Vater herzen.
Von da ab hörte der Verkehr mit Froschkönigs nicht mehr auf. Wenn jemand aus dem Volk den Gott zum Zorn gereizt, so suchte er erst bei dem jungen Siä Fürbitte zu erlangen und schickte Frau und Tochter in vollem Staat zu der Froschprinzessin, um sie anzuflehen. Lachte die Prinzessin, so war alles gut. Die Familie Siä hat eine große Nachkommenschaft. Die Leute nennen sie Froschmännchen. Nahestehende wagen nicht den Namen zu brauchen, aber Fernerstehende rufen es ihnen nach.
97. Abendrot
Im fünften des fünften Monats wird am Yangtsekiang das Drachenbootfest gefeiert. Man höhlt aus Holz einen Drachen aus, malt ihm den Schuppenpanzer auf und schmückt ihn mit Gold und bunten Farben. Ein geschnitztes, rotes Geländer umgibt das Schiff, Segel und Flaggen sind aus Seide und Brokat. Das Hinterteil des Schiffes heißt Drachenschwanz. Es ragt über zehn Fuß hoch empor. Daran ist an einem Tuch ein Brett gebunden, das im Wasser schwimmt. Auf dem Brette sitzen Knaben, die schlagen Purzelbäume, stehen Kopf und machen alle Arten von Kunststücken. So nahe am Wasser ist die Gefahr zu ertrinken groß; deshalb ist es Sitte, dass, wenn man einen solchen Knaben erwirbt, man zuvor seinen Eltern Geld gibt, ehe man ihn abrichtet. Fällt er dann ins Wasser und ertrinkt, macht man sich weiter keine Gewissensbisse. Weiter im Süden ist die Sitte insofern etwas anders, als man statt der Knaben schöne Dirnen nimmt.
In Dschen-Giang lebte eine Witwe Dsiang. Deren Sohn hieß Aduan. Mit sieben Jahren besaß er eine außerordentliche Geschicklichkeit, und keiner der anderen Jungen kam ihm gleich. Mit seinem Rufe wuchs der Preis. So kam es, dass man ihn mit sechzehn Jahren noch immer benutzte. Eines Tages aber fiel er unterhalb der Goldinsel ins Wasser und ertrank. Er war der einzige Sohn seiner Mutter. Die beweinte ihn, und damit war’s getan.
Aduan aber wußte nicht, dass er ertrunken war. Es kamen ihm zwei Männer entgegen, die ihn mit sich führten.
Mitten im Wasser des Stromes sah er eine neue Welt. Er blickte sich um, da standen rings umher die Wogen des Stromes steil wie Wände da. Ein Palast wurde sichtbar, darin sah man einen Mann in Helm und Panzer sitzen.
Seine beiden Begleiter sprachen zu ihm: »Das ist der Fürst der Drachenhöhle«, und hießen ihn niederknien.
Der Fürst der Drachenhöhle sah mild und gütig aus und sprach: »Einen so geschickten Jungen können wir brauchen. Er mag sich dem Reigen der Weidenzweige anschließen.«
Man brachte ihn an einen Ort, der rings von geräumigen Gebäuden umgeben war. Er trat ein; da begrüßte ihn eine Schar von Knaben, die alle etwa vierzehn Jahre alt waren.
Eine alte Frau kam herbei, und alle riefen: »Das ist Mutter Hiä!« Sie setzte sich und ließ ihn seine Künste zeigen. Dann lehrte sie ihn den Tanz des fliegenden Donners vom Tsiän-Tang-Fluss und die Musik der Windstillung vom Dung-Ting-See. Wenn die Pauken und Becken das Ohr betäubten, so hallte es in allen Höfen wieder. Dann wieder waren alle Höfe still. Die Mutter dachte, Aduan werde nicht gleich aufs erstemal alles erfassen können; so belehrte sie ihn denn mit vieler Geduld. Aber Aduan hatte gleich aufs erstemal alles genau begriffen. Da freute sich die Alte. »Dieser Knabe,« sagte sie, »gibt unserer Abendrot nichts nach.«
Am anderen Tag hielt der Fürst der Drachenhöhle Heerschau über seine Reigen ab. Als alle Reigen sich versammelt, da kam zuerst der Ogerreigen dran. Die hatten alle Teufelsfratzen und Schuppenkleider. Sie
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