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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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häuften sich ein Lager aus Lotosblättern, auf dem sie heimlicher Liebe Freuden genossen. Sie versprachen einander, sich jeden Abend nach Sonnenuntergang hier zu treffen. Dann schieden sie.
    Aduan kam heim, und seine Krankheit wandte sich zum Besseren. Von da ab trafen sich die beiden täglich im Lotosfeld.
    Nach ein paar Tagen mussten sie mit dem Fürsten der Drachenhöhle zur Geburtsfeier des Wu-Fluss-Königs gehen. Die Feier war zu Ende, und alle Reigen kehrten heim. Nur Abendrot und eine aus dem Nachtigallenreigen hatte der König zurückbehalten, um die Mädchen seines Schlosses tanzen zu lehren.
    So vergingen Monate, und es war nichts von Abendrot zu hören. Sehnsucht und Verzweiflung trieben Aduan um. Nur Mutter Hiä ging täglich nach dem Schloss des Wu-Fluss-Gottes. Er schützte vor, die Abendrot sei seine Base, und er bat sie flehentlich, ihn mitzunehmen, damit er sie nur einmal sehen könne. Sie nahm ihn mit und ließ ihn ein paar Tage in des Flussgottes Torhaus wohnen. Aber so streng war die Abschließung im Schlosse, dass Abendrot auch nicht ein einziges Mal ihn sehen konnte. Betrübt kehrte er zurück.
    Abermals verging ein Monat, und voll schwermütiger Gedanken wünschte er sich nur den Tod herbei.
    Eines Tages trat die Mutter Hiä herein und sprach ihm mitleidvoll ihr Beileid aus. »Wie schade,« sagte sie, »die Abendrot ist in den Fluss gesprungen.«
    Aduan erschrak aufs äußerste. Unaufhaltsam flossen ihm die Tränen herab. Er zerriß die schönen Kleider, steckte das Gold und die Perlen zu sich und ging hinaus, allein darauf bedacht, im Tode der Geliebten nachzufolgen. Doch er sah des Stromes Wasser wie Wände vor sich stehen, und wie er auch mit seinem Kopf dagegen rannte, sie warfen ihn zurück.
    Zurück durfte er nicht mehr; denn er fürchtete, man möchte ihn nach seinen Feierkleidern fragen und wegen des Verlustes streng bestrafen. So stand er ratlos da, und bis zu den Fersen rieselte ihm der Schweiß herunter.
    Plötzlich erblickte er am Fuß der Mauer einen hohen Baum. Wie ein Affe kletterte er empor bis in die Spitze. Dann schnellte er sich mit aller Kraft in die Wogen.
    Und ohne naß zu werden, schwamm er plötzlich auf dem Flusse. Unvermutet sah er so vor seinem geblendeten Auge die Menschenwelt wieder auftauchen. Er schwamm ans Ufer, und als er dann am Strande des Flusses wandelte, da musste er an seine alte Mutter denken. Er nahm ein Schiff und reiste heim.
    In seinem Dorfe angekommen, kamen ihm alle die Häuser ringsumher so vor, als wären sie aus einer anderen Welt. Am anderen Morgen trat er in das Haus der Mutter. Da hörte er ein Mädchen unter’m Fenster sagen: »Dein Sohn ist wieder da.« Der Klang der Stimme glich der Abendrots, und als sie an der Mutter Seite ihm entgegenkam, da war sie es wirklich.
    Zu dieser Stunde errang die Freude beider Menschen über all ihr Leid den Sieg. In der Mutter aber drängten sich Trauer und Zweifel, Schreck und Freude auf tausend Arten durcheinander.
    Als damals Abendrot im Flusspalaste war, da fühlte sie in ihrem Leibe sich’s regen. Da aber in dem Drachenschloss gar strenge Zucht herrschte, so fürchtete sie wegen ihres Fehltritts harte Strafe. Und da sie auch nicht ein einziges Mal mehr ihren Aduan sehen konnte, so suchte sie den Tod und stürzte sich in das Wasser des Flusses. Aber sie wurde nach oben gerissen und schwebte schwankend auf den Wellen. Da kam ein Schiff vorüber und nahm sie auf. Man fragte nach ihrer Heimat. Abendrot war ursprünglich eine berühmte Sängerin von Wu gewesen, die ins Wasser gefallen war, ohne dass man ihren Leichnam fand. Sie dachte nun bei sich selbst, dass sie doch nicht wieder in ihre alten Verhältnisse zurückkehren könne. So sagte sie denn: ,,Frau Dsiang in Dschen-Giang ist meine Schwiegermutter.« Die Reisenden mieteten ihr nun ein Schiff, das sie nach jenem Orte brachte. Die Witwe Dsiang meinte, sie irre sich. Das Mädchen aber blieb dabei, es sei kein Irrtum, und erzählte nun der alten Frau ihre ganze Geschichte. Die hatte an ihrer großen Lieblichkeit ein Wohlgefallen, doch machte sie sich Sorgen, dass sie zu jung sei, um ihr Leben als Witwe zu verbringen. Allein das Mädchen war ehrfurchtsvoll und fleißig, und als sie sah, dass Armut in dem Hause herrschte, da nahm sie ihren Perlenschmuck und verkaufte ihn für teures Geld. Die alte Frau war hocherfreut, da sie erkannte, wie ernst es dem Mädchen war. Doch da sie keinen Sohn mehr hatte, fürchtete sie, dass, wenn das Mädchen niederkäme,

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