Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
es schenken!«
Hocherfreut bot der Knabe ihm Geld an. Jener aber nahm nichts von ihm. Der Knabe trug die Hacke mit sich ins Haus zurück. Er probierte sie an Ziegeln und Steinen; nichts widerstand ihrer Kraft. Da fiel ihm ein, er könne die Geliebte sehen, wenn er damit ein Loch durch ihre Mauern grübe. Das nahm er sich vor, ohne an etwas Böses dabei zu denken. Rasch stieg er über die eigene Hofmauer und lief weg, geradezu nach dem Hause der Geliebten. Zwei Mauern musste er durchgraben, da stand er im inneren Hof. In einem kleinen Zimmerchen brannte noch Licht. Er schlich sich herzu und spähte hinein, da stand Edelweiß im Nachtkleid. Bald darauf erlosch das Licht, und es war still und lautlos. Er machte ein Loch ins Fenster und stieg hinein. Das Mädchen schlief schon fest. Sachte zog er die Schuhe aus und schlich ganz leise ans Bett. Er fürchtete aber, das Fräulein könnte erwachen und ihn fortschicken; darum kroch er ganz vorsichtig an den inneren Rand des Bettes und legte sich dort neben die gestickten Decken. Ein leichter Duft drang zu ihm, und all seines Herzens Sehnen war gestillt. Da er aber die halbe Nacht gearbeitet hatte, war er recht müde geworden. Nach einer Weile schloss er die Augen und schlief unversehens ein. Das Mädchen wachte auf. Sie hörte seinen Atem gehen, sie öffnete die Augen und sah das Loch im Fenster, zu dem es hell hereinkam. Sie erschrak aufs Äußerste. Schnell stand sie auf und rüttelte leise die Magd wach. Sie öffneten den Riegel und schlichen hinaus. Dann klopften sie ans Fenster des Nebenzimmers, wo die anderen Mägde schliefen, und riefen um Hilfe, und die ganze Schar kam herbei. Man machte Licht, bewaffnete sich mit Stöcken, um nachzusehen. Da erblickte man einen jungen Schüler, der süß auf der Decke des Bettes schlummerte. Man sah näher zu, da war’s der junge Ho Huan. Man musste ihn rütteln, ehe er erwachte. Er richtete sich auf. Es flimmerte ihm vor den Augen wie Sternschnuppen, doch tat er nicht sehr zag. Alle deuteten auf ihn als einen Dieb und schrien in ihrer Angst ihn an.
Da fing er an zu weinen und sagte: »Ich bin kein Dieb. Ich habe nur das Fräulein so lieb und wollte einmal in ihrer Nähe sein.«
Nun sah man nach den Löchern in den Mauern und besprach sich darüber, dass ein Knabe so etwas nicht fertig bringen könne. Da zog er seine Hacke hervor und erzählte von ihrer Wunderkraft. Er ließ sie auch probieren. Man erschrak und wunderte sich über diese Göttergabe. Die Mägde wollten die Sache der Mutter erzählen. Das Mädchen stand mit gesenktem Kopf in tiefen Gedanken daneben und schien nicht damit einverstanden.
Da errieten sie ihre Gedanken und sagten: »Der Knabe stammt aus einer guten Familie und scheint nichts Böses gedacht zu haben. Wir wollen ihn laufen lassen. Der heiratet Euch sicher noch! Wie wäre es, wenn wir Eurer Mutter morgen früh nur sagten, es sei ein Dieb dagewesen.«
Das Mädchen sagte nichts. Sie drängten den Knaben zu gehen; der wollte aber erst seine Hacke wiederhaben.
Lächelnd gab sie ihm eine Magd und sprach: »Der fixe Kerl! Sein schlimmes Werkzeug vergisst er nicht.«
Der Schüler entdeckte neben den Kissen einen Haarpfeil. Den barg er heimlich in seinem Ärmel. Eine Magd ertappte ihn dabei. Hastig entschuldigte er sich. Das Mädchen sprach kein Wort, war aber auch nicht böse.
Eine Alte klopfte ihm auf die Schulter und sprach: »Ihr dürft ihn keinen fixen Kerl nennen! Er ist noch jung und unerzogen.«
Dann schleppten sie ihn hinaus. Er kroch wieder durch die Löcher und ging heim. Seiner Mutter wagte er die Geschichte nicht zu gestehen, sondern bat sie nur, nochmals eine Ehevermittlerin hinzuschicken. Sie brachte es nicht über sich, ihm geradezu es abzuschlagen; doch wollte sie sich für ihn nach einer anderen Verbindung umsehen. Edelweiß erfuhr davon. Sie war bestürzt und schickte im Geheimen eine Vertraute zur Mutter des Schülers, ihr eine Andeutung zu geben. Erfreut sandte diese nun eine Ehevermittlerin zu der Familie Wu.
Eine junge Magd aber hatte das nächtliche Erlebnis Frau Wu verraten. Die empfand es als Schmach und ward sehr aufgeregt. Als nun die Ehevermittlerin kam, vermehrte das noch ihren Groll. Sie war für nichts zu haben, sondern beschimpfte den Schüler und seine Mutter. Erschrocken schlich sich die Ehevermittlerin aus dem Hause und erzählte, was ihr begegnet sei.
Da wurde auch die Mutter Ho böse und sagte: »Ich habe kein Wörtchen davon erfahren, was der dumme Junge angestellt
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