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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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hat. Was ist das für eine Art, nachträglich zu schimpfen! Warum haben sie denn damals, als sie die beiden beisammen ertappten, sie nicht miteinander umgebracht?«
    Von da an begann sie, allen ihren Verwandten und Bekannten die Sache zu erzählen. Das Mädchen hörte davon und wollte sterben vor Scham. Ihrer Mutter tat es nun auch leid; aber sie konnte es nicht mehr ungeschehen machen. Das Mädchen sandte im Geheimen, der Mutter ihres Geliebten freundlich zureden zu lassen. Sie schwor, nie einen anderen heiraten zu wollen, und ihre Worte waren so traurig, dass die Mutter davon gerührt wurde und nicht mehr über den Vorfall sprach. Von Heiratsplänen war aber auch nicht mehr die Rede.
    Es kam ein neuer Beamter in die Gegend, der sah die Aufsätze des Jünglings und fand sie vorzüglich. Er berief ihn in seine unmittelbare Nähe und begünstigte ihn auf allerlei Weise. Eines Tages fragte er ihn, ob er schon verheiratet sei.
    Er verneinte, und als er Näheres wissen wollte, erwiderte der Jüngling: »Ich hatte wohl früher einmal ein Verlöbnis geschlossen mit der Tochter des verstorbenen Friedensrichters Wu. Doch gab es später Uneinigkeiten, und das Verlöbnis schlief wieder ein.«
    »Und möchtest du sie denn immer noch haben?« fragte der Beamte.
    Errötend schwieg der Jüngling. Da lächelte jener: »Ich will es für dich besorgen.«
    Er sandte einen Untergebenen mit einem Geldgeschenk in die Familie. Die Mutter war erfreut, die Hochzeit wurde festgesetzt, und nach einem Jahr führte der Jüngling die Braut in seiner Mutter Haus.
    Die Braut nahm die kleine Hacke, warf sie zu Boden und sprach: »Dieses Diebsgerät wollen wir vernichten!« Lächelnd erwiderte der Jüngling: »Es hat uns doch zusammengebracht; wir wollen’s nicht vergessen.« Sorgfältig hob er die Hacke auf und trug sie immer bei sich.
    Die junge Frau war stets freundlich, aber schweigsam. Täglich besuchte sie dreimal ihre Schwiegermutter. Im übrigen schloss sie die Tür zu und saß still da. Um die Haushaltung kümmerte sie sich nicht sonderlich; nur wenn die Schwiegermutter etwa zu Beileid- oder Glückwunschbesuchen auswärts war, sorgte sie dafür, dass alles in bester Ordnung blieb. Nach zwei Jahren gebar sie einen Sohn, doch überließ sie ihn der Amme, ohne viel nach ihm zu sehen.
    Wieder vergingen vier, fünf Jahre, da sprach sie plötzlich zu ihrem Manne: »Wir genießen nun die Freuden der Liebe seit acht Jahren. Doch geht es nicht an, über dem Kleinen das Große zu vergessen.«
    Erschrocken fragte er, wie sie das meine; doch sie war schon in tiefes Schweigen versunken. Sie tat Feierkleider an und besuchte die Schwiegermutter. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Er ging hinein, nach ihr zu sehen. Da lag sie mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf ihrem Bett, und ihr Atem stand stille. Mutter und Sohn waren von herbem Schmerz ergriffen. Man besorgte einen Sarg und beerdigte sie.
    Frau Ho war alt und hinfällig. Jedesmal, wenn sie das Enkelkind auf den Arm nahm, gedachte sie seiner Mutter, und es gab ihr einen Stich ins Herz. So wurde sie allmählich krank, dass sie nicht mehr aufstehen konnte und alle Nahrung verschmähte. Nur nach Fischen hatte sie Lust. Doch gab es keine Fische in der Nähe. Hundert Meilen weit erst konnte man sie kaufen. Die Diener, die man ausschickte, kamen alle unverrichteter Sache wieder zurück. Da der Jüngling seine Mutter von Herzen ehrte, konnte er es nicht länger mit ansehen, steckte Geld zu sich und machte sich einsam auf den Weg. Tag und Nacht gönnte er sich keine Ruhe. Schließlich kam er an ein Gebirge. Die Sonne war schon gesunken, hinkend schleppte er sich weiter, Schritt vor Schritt. Ein Greis holte ihn ein und fragte ihn: »Du hast dir wohl die Füße wund gelaufen?« Er bejahte. Der Greis zog ihn am Straßenrand zum Sitzen nieder, schlug Feuer, tat ein Pulver in ein Papier und räucherte ihm die beiden Füße ein. Als er fertig war, hieß er ihn das Gehen versuchen. Der Schmerz hatte ganz aufgehört, und er fühlte sich neu gestärkt. Er bedankte sich von Herzen.
    Der Greis fragte, warum er denn so eilig sei? Er erzählte ihm von der Krankheit seiner Mutter und kam schließlich auf seine ganze Geschichte zu sprechen.
    »Warum heiratest du denn nicht wieder?« fragte der Greis.
    »Eine so gute Frau wie sie habe ich nimmer gesehen«, war die Antwort.
    Der Greis deutete auf ein Bergdorf: »Da drin lebt eine Schönheit. Willst du mit mir gehen, so will ich ein gutes Wort für dich

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