Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
und der Herr des Himmels befahl zwei geschickten Baumeistern, östlich vom Pfirsichgarten der Königin-Mutter des Westens ein Schloss für ihn zu bauen, in das er mit allen Ehren eingeführt wurde.
Nun war der Heilige in seinem Element. Er hatte alles, was sein Herz begehrte, und ward durch keine Arbeit beschwert. Er ließ sich’s wohl sein und ging nach Belieben im Himmel spazieren und machte bei den Göttern Besuche. Die drei Reinen und die vier Herrscher redete er mit einiger Ehrerbietung an; die Planetengötter aber und die Herren der achtundzwanzig Mondhäuser und der zwölf Tierkreisbilder und der sonstigen Sterne nannte er vertraulich »du«. So trieb er sich Tag für Tag ohne Beschäftigung in den Wolken des Himmels umher.
Da sprach einst ein Weiser zum Herrn des Himmels: ,,Der heilige Sun ist Tag für Tag müßig. Es ist zu fürchten, dass er auf unnütze Gedanken kommt. Besser wäre es, ihm irgend ein Amt zu übertragen.«
Der Herr des Himmels berief darum den Großen Heiligen und sprach zu ihm: ,,Die Lebenspfirsiche im Pfirsichgarten der Königin-Mutter werden bald reif. Ich übertrage dir das Amt, darauf zu achten. Sei sorgfältig in deinem Dienst!«
Das gefiel dem Heiligen, und er bedankte sich. Er ging nun in den Garten, wo ihn die Hüter und Gärtner auf den Knien empfingen.
Er fragte sie: »Wieviele Bäume sind im ganzen da?«
»Dreitausendsechshundert«, sprach der Gärtner. ,,In der vordersten Reihe stehen zwölfhundert. Die blühen rot und tragen kleine Früchte. Alle dreitausend Jahre werden sie reif. Wenn man davon isst, wird man gesund und frisch. Die zwölfhundert in der mittleren Reihe haben gefüllte Blüten und tragen süße Früchte; sie werden alle sechstausend Jahre reif. Isst man davon, so kann man im Morgenrote schweben, ohne alt zu werden. Die zwölfhundert in der letzten Reihe tragen rotgestreifte Früchte mit kleinen Kernen. Alle neuntausend Jahre werden sie reif. Isst man davon, so erlangt man ewiges Leben wie der Himmel und bleibt durch Tausende von Äonen unberührt.«
Der Heilige hörte das mit Vergnügen. Er prüfte die Listen und kam von da ab alle paar Tage einmal, um nachzusehen. Von den hintersten Pfirsichen war schon der größte Teil reif. Kam er in den Garten, so schickte er die Hüter und Gärtner unter irgendeinem Vorwand weg, sprang auf die Bäume und aß sich jedesmal nach Herzenslust satt an den Pfirsichen.
Um jene Zeit rüstete die Königin-Mutter des Westens das große Pfirsichmahl, zu dem sie alle Götter des Himmels einzuladen pflegte. Sie sandte die Feen in den siebenfarbigen Kleidern aus mit Körben, um die Pfirsiche zu pflücken. Der Hüter sagte: »Der Garten ist nun der Obhut des himmelsgleichen Großen Heiligen anvertraut, ihr müsst euch erst bei ihm melden.« Damit führte er die sieben Feen in den Garten. Allenthalben suchten sie nach dem Großen Heiligen; aber sie fanden ihn nicht. Da sprachen die Feen: »Wir haben Auftrag und dürfen uns nicht verspäten. Wir wollen inzwischen mit dem Pflücken beginnen.« So pflückten sie in der vorderen Reihe einige Körbe voll. In der mittleren standen die Pfirsiche schon lichter. In der hinteren endlich hing nur noch ein einziger halbreifer Pfirsich. Sie bogen den Zweig hernieder und pflückten ihn; dann ließen sie ihn wieder in die Höhe schnellen.
Nun aber hatte der Große Heilige, der sich in einen Pfirsichwurm verwandelt hatte, gerade auf diesem Zweige seinen Mittagsschlaf gehalten. Als er so unsanft aufgeweckt wurde, erschien er in seiner wahren Gestalt, griff nach seiner Stange und wollte nach ihnen schlagen.
Die Feen aber sprachen: »Wir kommen im Auftrag der Königin-Mutter. Seid nicht böse, Großer Heiliger!«
Der Heilige sprach: »Wen hat die Königin-Mutter denn alles eingeladen?«
Sie sprachen: »Sämtliche Götter und Heilige im Himmel, auf Erden und unter der Erde.«
»Hat sie auch mich geladen?« fragte der Heilige.
»Wir wissen nichts davon,« war die Antwort.
Da wurde der Heilige böse, sagte einen Zauberspruch und sprach: »Bleibt! Bleibt! Bleibt!«
Da wurden die sieben Feen an der Stelle festgebannt. Er nahm nun eine Wolke und fuhr darauf zum Palast der Königin-Mutter.
Unterwegs begegnete er dem barfüßigen Gott und fragte ihn: »Wohin des Wegs?«
»Zum Pfirsichmahl«, war die Antwort.
Da log ihn der Heilige an: »Ich habe vom Herrn des Himmels den Befehl, allen Göttern und Heiligen zu sagen, dass sie erst in die Halle der Klarheit kommen sollen, um dort die Riten
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