Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Gesell, den wir nicht reizen dürfen. Erst hat er mir die Stange mit den goldenen Zwingen genommen; nun will er auch noch eine Rüstung haben. Am besten wird’s wohl sein, wir befriedigen ihn zunächst und verklagen ihn nachher beim Himmelsherrn.«
So brachten denn die Brüder eine goldene Zauberrüstung, Zauberstiefel und einen Zauberhelm herbei.
Sun Wu Kung bedankte sich und kehrte in seine Höhle zurück. Strahlend begrüßte er seine Kinder, die ihm entgegenkamen, und zeigte ihnen die Stange mit den goldenen Zwingen. Sie kamen alle herbei und wollten sie einmal aufheben; aber es war, wie wenn eine Libelle einen Steinpfeiler umwerfen oder eine Ameise einen großen Berg tragen wollte. Nicht ein Haar breit bewegte sie sich. Da sperrten die Affen die Mäuler auf und streckten die Zungen heraus und sagten: »Vater, wie hast du das schwere Ding nur tragen können?« Da sagte er ihnen das Geheimnis der Stange und führte es ihnen vor. Er ordnete nun sein Reich, ernannte die vier Paviane zu Feldherren, und auch die sieben Tiergeister, der Ochsengeist, der Drachengeist, der Vogelgeist, der Löwengeist und die anderen schlossen sich ihm an.
Eines Tages hatten sie sich betrunken. Die Stange hatte er schon vorher zusammenschrumpfen lassen und ins Ohr gesteckt. Als er einschlief, da sah er im Traum zwei Männer kommen, die hatten eine Karte, auf der geschrieben stand: »Sun Wu Kung.« Sie duldeten keinen Widerstand, sondern banden ihn und führten seinen Geist davon. Als sie an eine große Stadt kamen, erwachte der Affenkönig allmählich aus seinem Rausche. Er sah eine eiserne Tafel über dem Stadttor; darauf stand mit großen Buchstaben: »Die Unterwelt.« Da ging ihm plötzlich ein Licht auf, und er sprach: »Das ist wohl die Wohnung des Todes? Aber ich bin doch seinem Machtbereich schon längst entnommen, wie kann er es wagen, mich herschleppen zu lassen!« Je mehr er nachdachte, desto wilder wurde er. Er holte die Stange mit den goldenen Zwingen aus seinem Ohr hervor, schwang sie und ließ sie groß werden. Dann zermalmte er die beiden Schergen zu Brei, zerriß seine Stricke und rollte seine Stange vor sich her bis in die Stadt. Die zehn Todesgötter erschraken und neigten sich bestürzt vor ihm und fragten: »Wer seid Ihr?«
Sun Wu Kung erwiderte: »Wenn Ihr mich nicht kennt, was schickt Ihr dann nach mir und lasst mich herschleppen? Ich bin der vom Himmel geborene Heilige Sun Wu Kung vom Berg der Blumen und Früchte. Aber wer seid Ihr? Schnell, sagt mir Eure Namen, sonst schlag’ ich Euch!« —
Demütig nannten die zehn Todesgötter ihre Namen.
Sun Wu Kung sprach: »Ich, der alte Sun, habe die Kraft des ewigen Lebens erlangt. Ihr habt mir nichts zu sagen. Schnell holt das Buch des Lebens her!« Der Tod wagte nicht zu widersprechen, sondern ließ durch den Schreiber das Buch herbeibringen. Sun Wu Kung schlug es auf. Da fand er unter der Klasse »Affen« Nr. 1350 die Bemerkung: »Sun Wu Kung, der vom Himmel geborene steinerne Affe. Seine Lebensdauer beträgt dreihundertzweiundvierzig Jahre. Dann soll er ohne Krankheit sterben.«
Sun Wu Kung nahm den Pinsel vom Tisch, strich das ganze Affengeschlecht im Buch des Lebens aus, warf das Buch hin und sagte: »Die Rechnung ist quitt! Von heute ab lass ich mir nichts mehr von Euch gefallen.«
Damit bahnte er sich mit seiner Stange den Weg aus der Unterwelt, und die zehn Todesgötter wagten nicht, ihm entgegenzutreten, sondern verklagten ihn erst hinterher beim Herrn des Himmels.
Als Sun Wu Kung die Stadt verlassen hatte, glitt er aus und fiel zu Boden. Darüber erwachte er und merkte, dass er geträumt hatte. Er berief die vier Paviane zu sich und sagte: »Famos! Famos! Ich war ins Schloss des Todes geschleppt worden und habe dort einen ordentlichen Lärm verführt. Ich habe mir das Buch des Lebens geben lassen und habe die Todesstunde von uns Affen allen ausgestrichen.« — Seit jener Zeit starben die Affen auf dem Berg nicht mehr, weil in der Unterwelt ihre Namen durchgestrichen waren.
Der Herr des Himmels aber saß in seinem Schloss und hatte alle seine Diener um sich versammelt. Da trat ein Heiliger hervor und überbrachte die Klage des Drachenkönigs vom Ostmeer. Und wieder ein anderer trat hervor und überbrachte die Klage der zehn Todesgötter. Der Herr des Himmels sah die Klageschriften durch. Beide berichteten von dem wilden, ungebührlichen Benehmen des Sun Wu Kung. Er befahl, dass ein Gott zur Erde stiege und ihn gefangennehme. Da trat jedoch der
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