Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Yü ließ sich jedoch nicht irremachen, sondern verbrachte die ganze Nacht bis zur Morgendämmerung mit einem Licht in der Hand wachend auf der Schwelle des Zimmers.
Ein anderes Mal hatte der böse Tsau Tsau die Feinde seines Herrn aungestiftet, seine Stadt durch Verrat zu nehmen. Da eilte er auf die Nachricht davon mit einem Heere herbei, sie zu entsetzen. Er geriet aber in einen Hinterhalt und wurde, zusammen mit seinem Sohn, gefangengenommen und in die Hauptstadt des feindlichen Landes gebracht. Der Fürst dieses Landes hätte gerne gehabt, dass er zu ihm übergehe; er aber schwur, dass er bis zum Tode sich nicht beugen werde. Darauf wurden Vater und Sohn zum Tode gebracht. Als er gestorben war, da hörte sein Roß, der rote Hase, zu fressen auf und starb. Er hatte aber auch einen treuen Hauptmann, namens Dschou Dsang, der war schwarz im Gesicht und trug ein großes Messer.
Er hatte eben eine Festung besetzt, als er von dem traurigen Ende seines Herzogs hörte. Er zog sein Schwert heraus und tötete sich selbst. Auch ein anderer seiner Getreuen stürzte sich auf die Nachricht von seinem Tode in den Stadtgraben und ertrank.
Zu jener Zeit lebte auf dem Nephritquellenberge ein Mönch, der ein Landsmann und alter Bekannter des Herzogs gewesen war. Der ging bei Nacht im Mondenschein spazieren.
Plötzlich hörte er aus der Luft herab eine laute Stimme schreien: »Ich will meinen Kopf wiederhaben!«
Der Mönch blickte empor und sah den Herzog Guan mit seinem Schwert in der Hand zu Pferde, gerade wie er zu Lebzeiten gewesen war. Rechts und links von ihm standen sein Sohn Guan Ping und sein Feldherr Dschou Dsang schattenhaft in den Wolken.
Der Mönch faltete die Hände und sprach: »Ihr wart im Leben gerecht und treu und seid im Tode nun ein weiser Gott, und doch versteht Ihr das Schicksal nicht? Wenn Ihr Euren Kopf durchaus wiederhaben wollt, an wen sollen sich dann die vielen Tausende von Feinden wenden, die durch Euch zu Tode gekommen sind, um ihr Leben wiederzuerlangen?«
Da neigte sich der Herzog und verschwand.
Seit jener Zeit entfaltet er dauernd geistige Wirksamkeit. So oft ein neues Herrscherhaus begründet wird, wird seine heilige Gestalt sichtbar. Darum hat man Tempel und Opfer für ihn eingerichtet und ihn in die Zahl der Reichsgötter aufgenommen. Er erhält ebenso wie Konfuzius die großen Opfer von Ochsen, Schafen und Schweinen. Sein Rang ward von Jahrhundert zu Jahrhundert höher. Erst ward er als Fürst Guan verehrt, später als König Guan, dann als großer Gott, der die Teufel besiegt; das letzte Herrscherhaus hat ihn endlich als großen göttlichen Helfer des Himmels verehrt. Er wird auch der Kriegsheilige genannt und ist ein starker Retter in aller Not, wenn die Menschen von Teufeln und Füchsen geplagt werden. Er wird häufig zusammen mit Konfuzius, dem Meister des Friedens, als Meister des Kriegs verehrt.
Der Offenbarungen seiner geistigen Kräfte sind unzählige. Es mag ein Beispiel für viele andere hier folgen.
In Ju Dschou lebte ein Mann, der war ein Trunkenbold und Spieler und schlug und schimpfte fortwährend seine Mutter. Er hatte ein kleines Söhnchen, das war eben ein Jahr alt. Die Großmutter trug es auf dem Arm spazieren. Da plötzlich machte es eine ungeschickte Bewegung und fiel zur Erde. Infolge des erlittenen Schreckens ward es krank. Die Alte fürchtete den Zorn ihres Sohnes und lief von zu Hause weg.
Als dieser nach Hause kam und die Krankheit seines Kindes sah, fragte er sein Weib, wie es gekommen. Darauf suchte er wütend nach seiner Mutter. Vor dem Tempel des Kriegsgottes erblickte er sie, eben im Begriff, hineinzugehen. Er riss sie an den Haaren heraus.
Da stand im Tempel das tönerne Bild des Kriegsgottes plötzlich von seinem Sitze auf, nahm dem hinter ihm stehenden Dschou Dsang das Messer aus der Hand, trat zur Tür heraus und hieb dem Mann den Kopf herunter. Der Priester des Tempels, der es sah, schlug eilig Glocke und Pauke und las aus den heiligen Schriften. In den Straßen und auf dem Markt hörten die Leute von der Geschichte und drängten sich staunend herbei. Sie sahen den Kriegsgott, in der rechten Hand das Messer, in der linken Hand den Kopf des Mannes. Mit einem Fuße vor der Tür, mit einem Fuße drin, so stand das Bild, unbeweglich wie ein Fels. Seit jener Zeit steht in Ju Dschou das Bild des Kriegsgottes mit gespreizten Beinen auf der Türschwelle als Zeichen seiner Macht.
28. Die Heiligenscheine
Alle wahren Götter haben auf dem Kopfe einen runden
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