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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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Ihr seid ein Fremder und habt Euch doch bereit gefunden, in ihrer Not ihr beizustehen; dafür bin ich Euch herzlich dankbar.« Dann begann er abermals zu schluchzen, und alle Umstehenden vergossen Tränen. Der Fürst gab nun den Brief einem Diener, der ihn ins Innere des Palastes trug. Nach einer kleinen Weile erhoben sich im Innern des Palastes laute Klagen.
    Der Fürst erschrak und wandte sich an einen der Beamten: »Geh hin und sage denen drinnen, sie sollen nicht so laut weinen; ich fürchte, Tsiän Tang könnte es hören.«
    »Wer ist denn Tsiän Tang?« fragte Liu I.
    »Es ist mein geliebter Bruder«, sprach der Fürst. »Er war früher der Herrscher des Tsiän-Tang-Flusses. Jetzt ist er abgesetzt.«
    Liu I fragte: »Warum soll er nicht von der Sache hören?«
    »Er ist so wild und unbändig,« war die Antwort, »dass ich fürchte, er könnte großes Unheil anrichten. Die Sintflut, die damals zur Zeit des Kaisers Yau neun Jahre lang auf Erden war, hat er in seinem Zorne angerichtet. Weil er mit einem Himmelsfürsten uneins wurde, hat er eine Wasserflut erregt, die bis über die Gipfel der fünf großen Berge ging. Da wurde der Herr zornig auf ihn und hat ihn mir in Gewahrsam übergeben. Ich musste ihn an eine Säule des Palastes fesseln.«
    Aber noch ehe er ausgeredet hatte, erhob sich plötzlich ein ungeheures Getöse, dass der Himmel zerriß und die Erde erbebte und der ganze Palast in Erschütterung geriet und Rauch und Wolken qualmend aufzischten. Ein roter Drache, tausend Fuß lang, mit blitzenden Augen, blutroter Zunge, scharlachnen Schuppen und feurigem Barte kam daher. Die Säule, an die er gefesselt war, schleppte an seiner Kette durch die Luft. Blitz und Donner brausten um seinen Leib; Schloßen, Schnee, Regen und Hagel wirbelten durcheinander. Ein Donnerschlag, und er fuhr zum Himmel auf und verschwand.
    Liu I fiel vor Schrecken zur Erde. Der König half ihm mit eigener Hand wieder auf und sagte: »Keine Angst! Das ist mein Bruder, der in seinem Zorn nach Ging Dschou eilt. Bald wird gute Nachricht da sein.«
    Darauf ließ er Wein und Speisen bringen, den Gast zu bewirten. Als der Becher dreimal die Runde gemacht hatte, da erhob sich säuselnd ein Zephirwind, und feiner Regen sprühte nieder. Ein Jüngling in purpurnem Gewand und hohem Hut trat ein. An der Seite trug er ein Schwert. Er sah männlich und heldenhaft aus. Hinter ihm ging ein Mädchen in strahlender Schönheit und nebelduftigem Gewand. Als er sie ansah, da war es die Drachen-Prinzessin, der er unterwegs begegnet war. Eine Schar von rotgekleideten Mädchen empfing sie unter Lachen und Kichern und führte sie ins Innere des Palastes. Der Herrscher aber stellte ihm den Jüngling vor und sagte: »Das ist Tsiän Tang, mein Bruder.«
    Tsiän Tang bedankte sich bei ihm für die Überbringung der Botschaft. Dann wandte er sich an seinen Bruder und sprach: »Ich habe mit den verruchten Drachen gekämpft und sie gründlich besiegt.«
    »Wieviele hast du umgebracht?«
    » Sechshunderttausend.«
    »Kamen Felder zu Schaden?«
    »Achthundert Meilen weit.«
    »Und wo ist der herzlose Gatte?«
    »Ich habe ihn gefressen.«
    Da sprach der König bestürzt: »Was der lose Knabe getan, war freilich nicht zu dulden. Doch bist du gar zu roh gewesen. In Zukunft darfst du so etwas nicht wieder tun.« Tsiän Tang versprach es.
    An jenem Abend wurde Liu I im Schloss festlich bewirtet. Musik und Tanz verschönerten das Mahl. Tausend Krieger mit Fahnen und Speeren in der Hand traten hervor. Posaunen und Trompeten erschallten, Pauken und Trommeln wirbelten. So führten sie einen Kriegstanz auf. Die Musik brachte zum Ausdruck, wie Tsiän Tang die feindlichen Reihen durchbrochen. Dem Gaste, der das hörte, sträubten sich vor Furcht die Haare. Dann wieder ertönten Saitenspiel, Flöten und goldene Glöckchen. In roter und grüner Seide tanzten tausend Mädchen einen Reigen. Die Rückkehr der Prinzessin wurde durch die Töne ausgedrückt. Sie klangen wie Gesang, wie Schluchzen, wie Trauer, wie Klagen, und alle, die sie hörten, wurden zu Tränen gerührt. Der König vom Dungting-See war hocherfreut. Dann hob er den Becher und trank dem Gaste zu, bis sie vom Weine aller Sorgen ledig wurden. Die beiden Herrscher dankten dem Gaste in Versen, und auch Liu I erwiderte in einem gereimten Trinkspruch. Die Höflingsscharen im Palaste riefen Beifall. Dann nahm der König vom Dungting-See einen blauen Wolkenkasten hervor, in dem das Wasser zerteilende Nashorn lag. Tsiän Tang tat

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