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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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finden?«
    »Am südlichen Ufer des Sees steht ein Orangenbaum,« erwiderte die Frau, »die Leute nennen ihn den Opferbaum. Wenn Ihr dorthin kommt, müsst Ihr Euren Gürtel lösen und dreimal ihn gegen den Orangenbaum schwingen, so wird jemand erscheinen, dem mögt Ihr folgen. Wenn Ihr meinen Vater seht, so erzählt ihm, in welcher Not Ihr mich getroffen, und dass ich seine Hilfe heiß ersehne.«
    Dann holte sie aus ihrem Busen einen Brief und gab ihn dem Liu I. Sie verneigte sich vor ihm und blickte seufzend nach Osten. Auch dem Liu I rollten unversehens die Tränen herab. Er nahm den Brief und steckte ihn in seinen Beutel.
    Dann fragte er: »Ich verstehe nicht, warum Ihr Schafe hüten müsst. Schlachten die Götter denn auch Tiere?«
    »Das sind keine gewöhnlichen Schafe,« sagte die Frau; »es sind Regenknechte.«
    »Was sind denn Regenknechte?«
    »Es sind die Donnerböcke«, sprach die Frau.
    Und als er näher zusah, da sah er, dass die Tiere stolz und wild einherschritten, ganz anders als gewöhnliche Schafe.
    Liu I fügte dann noch hinzu: »Wenn ich den Brief für Euch nun überbringe und Ihr künftig wohlbehalten zum Dungting-See zurückkehrt, müsst Ihr mich aber nicht wie einen Fremden behandeln.«
    Die Frau erwiderte: »Wie sollte ich Euch fremd behandeln! Ihr sollt mir der liebste Freund sein!«
    Nach diesen Worten schieden sie.
    Nach einem Monat kam Liu I an den Dungting-See und fragte nach dem Orangenbaum, und richtig fand er ihn. Er löste seinen Gürtel und schlug dreimal gegen den Baum. Sofort tauchte ein Krieger aus den Wellen des Sees hervor.
    Er fragte: »Woher kommt Ihr, werter Gast?«
    Er sprach: »Ich habe einen wichtigen Auftrag und will den König sehen.«
    Der Krieger winkte nach dem Wasser zu, da ward es zur festen Straße, und er führte ihn hinein. Das Drachenschloss türmte sich vor ihnen auf mit tausend Toren. Wunderblumen und seltene Gräser sprossten in üppiger Fülle. Der Krieger hieß ihn an der Seite eines großen Saales warten.
    Er fragte: »Wie heißt dieser Ort?«
    »Es ist die Geisterhalle«, war die Antwort.
    Liu I sah sich um: Alle Kleinodien der Menschenwelt waren in verschwenderischer Pracht vorhanden. Die Säulen waren aus weißem Quarz mit grünem Jaspis eingelegt; die Sitze waren aus Korallen, die Vorhänge aus wasserklarem Bergkristall, die Fenster aus geschliffenem Glas mit reichem Gitterwerk verziert. Bernstein geschmückt schwangen sich in weitem Bogen die Balken der Decke. Ein fremder Duft erfüllte den Raum, der sich in geheimnisvollem Dunkel verlor.
    Lange musste er auf den König warten. Auf seine Fragen belehrte ihn der Krieger: »Der Herr geruht jetzt eben auf dem Korallenturm mit dem Sonnenpriester über das heilige Buch des Feuers zu reden. Es wird wohl bald zu Ende sein.«
    Liu I fragte weiter: »Was hat es mit dem heiligen Buch des Feuers auf sich?«
    Die Antwort war: »Unser Herr ist ein Drache. Die Drachen sind groß durch die Kraft des Wassers. Mit einer Woge können sie Berg und Tal bedecken. Der Priester ist ein Mensch. Die Menschen sind groß durch die Kraft des Feuers. Mit einer Fackel können sie die größten Paläste verbrennen. Feuer und Wasser bekämpfen sich, da sie in ihrer Wesensart verschieden sind. Darum bespricht sich unser Herr nun mit dem Priester, um einen Weg zu finden, wie Feuer und Wasser sich ergänzen können.«
    Noch ehe sie ausgeredet, erschien ein Mann im purpurnem Gewand, der trug ein Jaspiszepter in der Hand.
    Der Krieger sprach: »Das ist mein Herr.«
    Liu I verneigte sich vor ihm.
    Der König sprach: »Seid Ihr denn nicht ein lebender Mensch? Was führt Euch hierher?«
    Liu I nannte seinen Namen und erzählte: »Ich war in der Hauptstadt und fiel dort in der Prüfung durch. Als ich am Ging Dschou-Fluss vorüber kam, da sah ich Eure geliebte Tochter, wie sie Schafe weidete in der Wildnis. Der Wind zauste ihre Haare, und der Regen netzte sie. Ich konnte diese Trübsal nicht mit ansehen und sprach sie an. Sie klagte mir, dass sie von ihrem Gatten verstoßen sei, und weinte bitterlich. Dann gab sie mir einen Brief mit. Darum bin ich gekommen, Euch, o König, zu besuchen.«
    Mit diesen Worten holte er den Brief heraus und überreichte ihn dem König. Als der ihn durchgesehen hatte, verhüllte er sein Antlitz mit dem Ärmel und sagte seufzend: »Das ist meine Schuld. Ich habe ihr einen schlechten Gatten ausgewählt. Ich wollte meine Tochter recht früh verheiraten und habe sie nun in der Ferne in Schmach und Schande gebracht.

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