Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
eine Platte von rotem Bernstein hervor mit einem Karfunkelstein darauf. Die schenkten sie dem Gaste, und auch die anderen im Palast häuften an seiner Seite Stickereien, Brokate und Perlen auf. Von Glanz und Schimmer umflossen saß Liu I da und dankte lächelnd nach allen Seiten. Als das Mahl zu Ende war, schlief er im Schloss des gefrorenen Glanzes.
Tags darauf wurde wieder ein Mahl gehalten. Tsiän Tang, der etwas betrunken war, saß lässig da und sprach: »Die Königstochter vom Dungting-See ist fein und hübsch. Sie hat das Unglück gehabt, von ihrem Gatten verstoßen zu werden. Heute ist ihre Ehe gelöst. Ich möchte nun einen anderen Mann für sie haben. Wenn Ihr einverstanden wäret, so wäre es auch für Euch von Vorteil. Seid Ihr aber nicht gewillt, so möget Ihr Eure Straße ziehen, und wenn wir uns einmal wieder treffen sollten, so kennen wir uns nicht mehr.«
Liu I ward böse über die lässige Art, mit der Tsiän Tang zu ihm sprach. Das Blut stieg ihm zu Kopf, und er erwiderte: »Ich habe den Boten gemacht, weil ich Mitleid hatte mit der Prinzessin, nicht aber, um mir selbst einen Vorteil dabei zu verschaffen. Den Gatten töten und die Frau entführen, so etwas tut ein rechter Mann nicht. Bin ich auch nur ein gewöhnlicher Mensch, so will ich lieber sterben, als nach Euren Worten handeln.«
Tsiän Tang stand auf, entschuldigte sich und sprach: »Meine Worte waren allzu übereilt. Ich hoffe, Ihr nehmt mir’s nicht übel.« Und auch der Herr vom Dungting-See sprach ihm gütlich zu und tadelte Tsiän Tang wegen seiner rohen Rede. Von der Heirat wurde nicht mehr gesprochen.
Tags darauf verabschiedete sich Liu I, und die Königin vom Dungting-See gab zum Abschied noch ein Festmahl.
Die Königin sprach unter Tränen zu Liu I: »Meine Tochter ist Euch zu tiefem Dank verpflichtet, und wir haben keine Gelegenheit gehabt, es Euch zu vergelten. Nun geht Ihr weg, und wir lassen Euch mit schwerem Herzen ziehen.«
Darauf befahl sie der Prinzessin, sich zu bedanken.
Die stand errötend auf, verneigte sich vor ihm und sprach: »Wir werden uns wohl niemals wiedersehen!« Dann erstickte ihre Stimme in Tränen.
Liu I hatte wohl dem stürmischen Drängen des Oheims sich widersetzt, doch wie er nun die Prinzessin in aller ihrer Lieblichkeit vor sich stehen sah, da tat es ihm von Herzen leid; allein er bezwang sich und ging weg. Der Schätze, die er mitbekam, waren unermeßlich viele. Der König selbst mit seinem Bruder gab ihm das Geleite bis zum Fluss.
Als er zu Hause ein Hundertstel von dem, was er bekommen, verkaufte, da zählte sein Vermögen schon nach Millionen, und er ward reicher als alle seine Nachbarn. Zweimal verheiratete er sich, doch starben beide Frauen nach kurzer Zeit. So wohnte er denn allein in der Hauptstadt. Er suchte nach einer neuen Gattin. Eine Vermittlerin kam zu ihm und erzählte ihm, dass im Norden eine Witwe mit ihrer Tochter lebe. Der Vater habe sich in späteren Jahren dem Taoismus ergeben und sei in den Wolken verschwunden, ohne wiederzukehren. Die Mutter lebe nun mit ihrer Tochter in ärmlichen Verhältnissen; doch weil das Mädchen über alle Maßen schön sei, so suche sie nach einem vornehmen Eidam.
Liu I war es zufrieden, und die Hochzeit wurde festgesetzt. Als er am Hochzeitsabend seine Braut entschleiert sah, da glich sie ganz der Drachenprinzessin. Er fragte sie, sie aber lächelte und sagte nichts.
Nach einem Jahr gebar sie einen Sohn. Da sagte sie zu ihrem Manne: ,,Heute will ich dir es gestehen: ich bin wirklich die Prinzessin vom Dungting-See. Als du meines Oheims Antrag verschmäht hattest und weggegangen warst, da ward ich krank vor Sehnsucht und kam dem Tode nahe. Meine Eltern wollten nach dir schicken; aber sie fürchteten, du möchtest an meiner Herkunft Anstoß nehmen. So ward ich denn, als Menschenmädchen verkleidet, dir vermählt. Bisher wagte ich es dir nicht zu gestehen. Nun habe ich dir einen Sohn geboren, und ich hoffe, dass du die Liebe zu ihm auf seine Mutter überträgst.«
Da kam Liu I wie aus tiefer Betäubung zu sich. Und die beiden liebten sich von Herzen.
Eines Tages sprach die Frau: »Wenn du ewig mit mir zusammenleben willst, so können wir nicht in der Menschenwelt wohnen bleiben. Wir Drachen werden zehntausend Jahre alt, und du sollst teil an diesem Alter haben. Komm mit mir zurück in den Dungting-See!«
Zehn Jahre waren darüber vergangen, und niemand wußte, wohin Liu I verschwunden war. Da kam zufällig ein Verwandter von ihm über den
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