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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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Dungting-See gefahren. Plötzlich tauchte ein blauer Berg aus den Wassern hervor.
    Die Schiffer riefen bestürzt: ,,An dieser Stelle ist kein Berg, es muss ein Wasserdämon sein!«Während sie noch deuteten und Ausschau hielten, da nahte sich der Berg dem Schiff, und von seiner Spitze glitt ein buntes Boot ins Wasser nieder. Zu beiden Seiten standen Feen. In der Mitte saß ein Mann. Es war Liu I. Er winkte seinem Vetter mit der Hand; der raffte seine Kleider auf und stieg zu ihm ins Boot. Als er jedoch das Boot betrat, da hatte es sich in einen Berg verwandelt. Auf dem Berge stand ein prächtiges Schloß, und in dem Schlosse stand Liu I, umgeben von Saitenspiel und leuchtenden Farben.
    Sie begrüßten sich, und Liu I sprach zu seinem Vetter: »Kaum einen Augenblick sind wir auseinander, und du hast schon graues Haar.«
    Der Vetter sprach: »Du bist ein seliger Gott; ich habe verweslichen Leib. So will es das Schicksal.«
    Da gab ihm Liu I fünfzig Pillen und sprach: »Jede Pille verlängert dein Leben um ein Jahr. Wenn diese Jahre voll sind, so komm und verweile nicht länger in der Welt des Erdenstaubs, wo nur eitel Not und Mühsal ist.«
    Dann brachte er ihn noch über den See und war verschwunden.
    Sein Vetter aber zog sich von der Welt zurück, und nach fünfzig Jahren, als er die Pillen alle gegessen hatte, da verschwand er auch auf Nimmerwiedersehen.

56. Das Fuchsloch
    Im Westen der Kiautschou-Bucht ist ein Bergdorf, das heißt das Fuchsdorf. Östlich von dem Dorfe steht ein hoher Fels. Mitten durch den Fels geht eine Höhle, rund wie der Vollmond. Die Höhle führt wie ein Tunnel wohl eine halbe Meile lang durch den ganzen Berg und kommt auf der anderen Seite wieder heraus. Die alten Leute sagen, es wohnen viele Füchse und Wiesel darin. Darum getraut sich niemand hinein, und das Dorf hat von dieser Höhle seinen Namen.
    Einst gingen zwei Bauern aus der Gegend in die Stadt.
    Als sie am Fuchsloch vorbeikamen, da deuteten sie auf den Eingang der Höhle, und der eine sagte im Scherz: »Wenn man da ein ordentliches Feuer anzündete, so würden die Füchse und Wiesel alle miteinander verbrennen.«
    Der andere, der ein Pächter war, brach in lautes Gelächter aus und sagte: ,,Wenn vorne das Feuer brennt und hinten der Rauch raus kommt, das wäre ein Spaß!«
    Als sie von der Stadt zurückkamen, da fing der Pächter auf einmal bitterlich zu weinen an. Er nannte sich mit seinem eigenen Namen, und eine verstellte Stimme sprach aus ihm: ,,Ich bin dein Vater. Ich bin jämmerlich ums Leben gekommen. Heute ist mir’s vergönnt, einmal zu Hause wieder einen Besuch zu machen.« Dann rief die Stimme nach der Mutter des Pächters, und als sie kam, da nahm er sie bei der Hand und weinte bitterlich und redete mit ihr über die Geschichte seines früheren Lebens. Dann sagte er noch: »Ich bin sehr hungrig. Lass mir schnell Wein und Speise schaffen! Aber es muss ein Huhn sein.«
    Die Mutter des Pächters glaubte wirklich, es sei der Geist ihres Mannes, weil er mit ihr von Dingen sprach, die sonst niemand wußte. So begann sie denn auch vor Rührung zu weinen. Der Frau des Pächters aber kam die Sache nicht ganz geheuer vor, und weil er durchaus ein Huhn zum Essen wollte, argwöhnte sie, ihr Mann sei vielleicht von einem Fuchse besessen.
    Darum fing sie kurz und bündig an: »Wir haben keinen Wein im Haus, und die Hühner brüten gerade. Ich will dir Grütze kochen. Du bist ja ein seliger Geist, lieber Schwiegervater, da ist es deine Pflicht, uns zu helfen und uns nicht unnötige Kosten zu machen.«
    Da klang es aus ihrem Mann sehr zornig: »Das Frauenzimmer da hat keine Ehrfurcht. Was ihr dort in dem großen Faß zusammengebraut habt, ist denn das kein Wein? Und Hühner habt ihr eine ganze Herde. Täglich füttert ihr ihnen einen Scheffel Hirse. Warum wollt ihr nicht ein einziges hergeben, um eurem verstorbenen Vater eine Freude zu machen?«
    Die Mutter brachte es nicht länger über sich. Sie befahl der Schwiegertochter, Huhn und Wein zu bringen, und der Besessene begann zu essen und zu trinken. Wie er aber aß, da mummelte er mit spitzen Lippen wie ein Wiesel, und alle, die es sahen, mussten heimlich lachen.
    Nun war in der Nachbarschaft ein Bursche, der war groß und stark; er nahm ein Messer und rief: ,,Bist du nicht der alte Wiesel und stellst dich nur so, als wärest du der verstorbene Vater? Wenn du nicht gleich die Wahrheit sagst, so bringe ich dich um.«
    Auf diese Worte hin verzog sich das Gesicht des Pächters in

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