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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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ergriff. Eiligst sandte ich der Prinzessin Nachricht. Vor ihrem Palaste nahm sie die Gefangenen entgegen. Alles Volk, hoch und niedrig, strömte herbei, ihr Glück zu wünschen. Der kleine Tschauna sollte auf dem Markte hingerichtet werden. Da kam unversehens ein reitender Bote daher mit einem Befehl vom Vater der Prinzessin, man solle ihm verzeihen. Die Prinzessin wagte nicht, den Gehorsam zu weigern. So entließ sie ihn in seine Heimat, nachdem er vorher feierlich allen frevlen Gedanken abgeschworen hatte. Ich wurde für meinen Sieg mit Gnaden überhäuft. Ein Lehensgut mit dreitausend Bauern wurde mir zugewiesen. Ich erhielt einen Palast, Wagen und Pferde, alle Arten von Kleinodien, Knechte und Mägde, Gärten und Wälder, Fahnen und Rüstungen. Und auch die Unterführer wurden nach Verdienst belohnt. Am anderen Tage ward ein Festmahl gehalten, zu dem auch die edlen Frauen, die auf Besuch waren, sich einfanden. Bis tief in die Nacht dauerte das Trinkgelage. Die Prinzessin füllte eigenhändig ihren kostbaren Becher, ließ ihn durch eine Dienerin mir überbringen und sprach zu mir: ,Früh verwitwet, widersetzte ich mich dem Willen meines strengen Vaters und floh vor ihm an diesen Ort. Da bedrängte mich der Schurke Tschauna und hätte beinahe Schmach und Schande über mich gebracht. Wenn nicht Eures Herrn große Güte und Eure Tapferkeit mir zu Hilfe gekommen wären, so wäre mir das Los jener Königstochter zugefallen, die, gewaltsam zum Weibe genommen, stumm blieb bis an ihr Lebensende.‹ Dann fing sie an sich zu bedanken, und vor Rührung rollten ihr reichliche Tränen nieder. Ich verneigte mich vor ihr und bat um Urlaub, um nach den Meinen zu sehen. Ein Monat ward mir gewährt. Am anderen Tage entließ sie mich mit einem reichen Gefolge. Vor der Stadt war ein Pavillon errichtet, um mir den Abschiedstrunk darzubringen. So ritt ich weg, und als ich vor unserem Tore ankam, ertönte krachend ein Donnerschlag, und ich erwachte.«
    Darauf schrieb der Feldherr einen Bericht an Dschou Bau, in dem er den Dank der Prinzessin übermittelte. Er kümmerte sich von da ab nicht mehr um die Weltgeschäfte, sondern bestellte sein Haus und übergab es seiner Frau und seinem Sohn. Als ein Monat vorüber war, starb er ohne Krankheit.
    An jenem Tage war einer seiner Offiziere unterwegs. Plötzlich sah er, wie eine dichte Staubwolke aufwirbelte und Flaggen und Fahnen die Sonne verdunkelten. Tausend Ritter gaben einem Manne das Geleite, der stolz und heldenhaft zu Pferde saß. Als er ihm ins Gesicht sah, war es der Feldherr Dschong Tschong-Fu. Eilig trat er an den Rand der Straße, um Platz zu machen, da sah er den Zug vorüber reiten. Sie ritten nach dem Mädchensee, wo sie verschwanden.

55. Die verstoßene Prinzessin
    Zur Tang-Zeit lebte ein Mann namens Liu I, der war in seiner Doktorprüfung durchgefallen. So reiste er wieder nach Hause zurück. Sechs, sieben Meilen hatte er hinter sich, da flog im Feld ein Vogel auf. Sein Pferd ward scheu und rannte über zehn Meilen weit, ehe es sich halten ließ. Da sah er eine Frau, die hütete Schafe am Abhang eines Berges. Er blickte sie an; sie war wunderschön von Angesicht, doch drückten ihre Mienen geheimen Kummer aus. Verwundert fragte er sie, was ihr fehle.
    Die Frau begann zu schluchzen und erzählte: »Das Glück hat mich verlassen; ich kam in Not und Schande. Da Ihr die Freundlichkeit habt, mich zu fragen, will ich Euch offen alles sagen. Ich bin die jüngste Tochter des Drachenfürsten vom Dungting-See und war verheiratet an den zweiten Sohn des Drachenkönigs von Ging Dschou. Mein Gatte aber war leichtsinnig und hielt es mit einer ränkevollen Magd. So hat er mich verstoßen. Ich klagte meine Not den Schwiegereltern, die aber hatten eine blinde Liebe für den Sohn und taten nichts. Als ich sie dringender noch bat, da wurden beide böse, und ich ward hier heraus geschickt und muss die Schafe hüten.« Als sie ausgeredet hatte, brach sie vor Schmerz in lautes Weinen aus und konnte sich gar nicht mehr fassen. Dann fuhr sie fort: »Der Dungting-See ist so weit von hier, doch habe ich erfahren, dass Ihr auf Eurer Heimreise dort vorbeikommt. Ich möchte Euch einen Brief an meinen Vater mitgeben; ich weiß nicht, ob es angeht?«
    Liu I erwiderte: »Eure Worte haben mich im tiefsten Herzen gerührt. Ich wollte, ich hätte Flügel und könnte mit Euch von dannen fliegen. Den Brief an Euren Vater will ich gerne überbringen. Doch der Dungting-See ist groß und weit, wie kann ich ihn da

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