Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
voll von buddhistischen und taoistischen Priestern kommen, die fasten und Messe lesen sollten fünfunddreißig Tage lang, um ihn zu erlösen. Ganze Berge von Papiergeld, Seide und Strohpuppen wurden verbrannt. Noch immer sind die Feiern nicht zu Ende.«
Als Dung das hörte, erschrak er sehr.
Nach zwei Jahren erhielt er den Befehl, nach Taianfu zu reisen, um dort Räuber dingfest zu machen. Da dachte er bei sich selbst: »Mein Freund, der Geist, muss doch sehr mächtig sein, dass er diese Reise schon so lange vorher wußte. Ich muss mich nach ihm erkundigen. Vielleicht bekomme ich ihn zu Gesicht.«
In Taianfu angekommen, suchte er eine Herberge auf.
Der Wirt empfing ihn mit den Worten: »Seid Ihr der Meister Dung, und kommt Ihr von der Kiautschou-Bucht?«
»Der bin ich,« sagte Dung bestürzt, »woher kennst du mich denn?«
Der Wirt antwortete: »Heute Nacht erschien mir der Scherge vom Bergtempel und trug mir auf: ,Morgen kommt von der Kiautschou-Bucht ein Mann namens Dung, das ist ein guter Freund von mir.‹ Er beschrieb mir dann noch ganz genau Euer Aussehen und Eure Kleidung und sagte, ich solle mir’s sorgfältig merken, und wenn Ihr kämet, solle ich Euch zuvorkommend behandeln und keinerlei Bezahlung annehmen, er wolle mir’s reichlich vergelten. Als ich Euch nun kommen sah, da stimmte alles mit meinem Traume überein, deshalb erkannte ich Euch. Ich habe schon ein ruhiges Zimmer für Euch hergerichtet und bitte Euch vorliebzunehmen.«
Hocherfreut folgte ihm Dung. Der Wirt bediente ihn mit der größten Aufmerksamkeit und ließ es an Wein und Speisen nicht fehlen.
Um Mitternacht kam der Geist. Ohne die Tür zu öffnen, stand er vor seinem Bett, gab ihm die Hand und fragte ihn, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen sei.
Dung antwortete auf alles und bedankte sich noch dafür, dass er im Traum dem Wirt erschienen sei.
Er blieb einige Tage dort wohnen. Tagsüber ging er auf dem Großen Berg spazieren, und bei Nacht kam sein Freund, um mit ihm zu plaudern. Als er seine Geschäfte erledigt hatte, verabschiedete er sich von ihm. Er fragte dabei auch noch, wie es mit jenem Herrn Wang stehe.
»Sein Urteil ist schon gefällt«, erwiderte der andere. »Dieser Mensch hat Gewissenhaftigkeit geheuchelt und seinen Freund verräterisch zum Tode gebracht. Unter allen Sünden gibt es keine schlimmere als die. Zur Strafe kommt er nun als Tier zur Welt.« Dann fügte er noch bei: »Wenn du nun heimkommst, musst du stets auf deine Gesundheit achten. Vom Schicksal sind dir achtundsiebzig Lebensjahre bestimmt. Wenn die Zeit gekommen ist, so will ich dich selber abholen. Ich will dann für eine Stelle als Scherge in der Unterwelt sorgen. Dann können wir immer beisammen sein.«
Als er dies gesagt, verschwand er.
63. Die gefährliche Belohnung
Bei dem Großen Berge lebte ein Mann namens Hu Wu-Bau. Der ging einmal auf dem Berge spazieren. Da traf er unter einem Baume einen Boten in rotem Gewand, der ihm zurief: »Der Herr des Großen Berges möchte dich sehen!« Der Mann erschrak gar sehr, doch wagte er keinen Widerspruch. Der Bote hieß ihn die Augen schließen, und als er sie nach einer kleinen Weile wieder öffnen durfte, da stand er vor einem hohen Palast. Er trat ein, um den Gott zu sehen. Der richtete ihm ein Mahl zu und sprach: »Dass ich Euch heute rufen ließ, hat keinen anderen Grund, als dass ich gehört habe, Ihr wolltet nach Westen reisen. Da möchte ich Euch gern einen Brief mitgeben für meine Tochter.« »Wo ist denn Eure Tochter?« fragte der Mann. »Sie ist an den Flussgott verheiratet«, war die Antwort. »Ihr braucht nur diesen Brief da mitzunehmen. Wenn Ihr mitten im gelben Flusse seid, so schlaget an das Schiff und rufet: Grünrock! Dann wird jemand kommen, der Euch den Brief abnimmt.«
Mit diesen Worten gab er ihm einen Brief, und er ward wieder an die Oberwelt zurückgebracht.
Als er auf seiner Reise an den gelben Fluss kam, da tat er nach den Worten des Königs und rief: Grünrock! Und richtig kam ein Mädchen in grünen Kleidern hervor, das nahm ihn bei der Hand und hieß ihn auch die Augen schließen. So führte sie ihn in den Palast des Flussgottes, und er übergab den Brief. Der Flussgott bewirtete ihn prächtig und bedankte sich aufs Beste. Beim Abschied sprach er noch: »Ich danke Euch, dass Ihr den weiten Weg zu mir gemacht habt. Ich habe nichts, das ich Euch schenken könnte, als dies Paar grüner Seidenschuhe. Wenn Ihr sie tragt, so könnt Ihr gehen, soviel Ihr wollt, und werdet
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