Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
anvertraut wurde. Alles ist genau so wie an dem kaiserlichen Tempel in Peking.
In diesem Tempel sind Dreifüße und Opfergefäße aufgestellt: alle aus Gold, Silber und Edelsteinen gemacht, die viele Millionen wert sind. Die Diebe tragen wohl großes Verlangen nach ihnen; aber sie kommen nicht heran.
Unter dem Kaiser Hiän Fong lebten drei mächtige Räuber, die konnten über die Dächer fliegen und an den Wänden auf- und abgehen. Wenn sie jemand überraschte, so bliesen sie ihm einen giftigen Rauch ins Gesicht, dass er bewußtlos wurde.
Die brachen bei Nacht im kaiserlichen Tempel ein und stahlen von dem Altar goldene Räuchergefäße, Nephritschalen und silberne Schüsseln. Sie bargen sie an ihrem Busen und kletterten damit die Mauer wieder hinauf.
Da sahen sie einen weißbärtigen Greis auf dem Dachfirst des Tempels sitzen. Der deutete mit der Hand nach ihnen. Da mussten die drei rittlings auf der Mauer sitzen bleiben und konnten nicht herunter. Die Beine waren ihnen wie angenagelt.
Als der Morgen dämmerte, fand sie der Tempelaufseher. Er ließ sie herunter holen und verhören. Da gestanden sie, was sich zugetragen hatte. Der Vorsteher des Tempels machte darauf einen Bericht an den Hof und erhielt die Antwort, dass dem Fuchs eine Opferstelle gewährt werden solle.
Seitdem tut er große Wunder. Er erhielt allmählich den höchsten Beamtenknopf und die gelbe Reitjacke.
In der Mandschurei sind allenthalben Tempel und Bilder für ihn errichtet. Er wird dargestellt als ein würdiger, hoher Mandschu-Beamter. Die Leute, die dort um Gewährung von Glück und Abwendung des Leides bitten, sind so zahlreich, dass sie sich auf den Fersen drängen und sich mit den Ellbogen stoßen. Im Tempelhofe steht ein großer Räucherofen. Darinnen stecken ganze Wälder von Weihrauchstäbchen. Der Opferrauch steigt in dichten Schwaden empor, und die Asche des verbrannten Papiergeldes fliegt wie Schmetterlinge umher. Die Betenden halten den Atem an, wenn sie sich niederwerfen, und wagen nicht, umherzublicken. Die Leute reden von ihm nur als von dem dritten Vater. Sie wagen das Wort Fuchs nicht auszusprechen. Neuerdings hat seine Verehrung auch in Ostschantung Eingang gefunden und ist jetzt sehr verbreitet.
61. Die sprechenden Silberfüchse
Die Silberfüchse gleichen den Füchsen; aber sie sind gelb, brandrot oder weiß. Auch sie können die Menschen beeinflussen. Es gibt eine Art, die kann im Laufe der Jahre die Menschensprache erlernen. Man nennt sie die sprechenden Füchse. Südwestlich von der Kiautschou-Bucht steht am Meeresstrand ein Berg, der hat die Form eines Turmes und wird daher Turmberg genannt. Auf dem Berg steht ein alter Tempel mit einem Götterbild, das heißt die alte Mutter vom Turmberg. Wenn in den Dörfern ringsumher die Kinder erkranken, so ordnen häufig die Zauberer an, dass man Papierbilder von ihnen hier verbrennt oder Lehmkindchen aufstellt. So ist denn der Altar und seine ganze Umgebung mit Hunderten von Lehmkindern bedeckt. Auch werden der alten Mutter Blumen, Kleider und Schuhe von Papier dargebracht, die ebenfalls in buntem Durcheinander herumliegen. Am dritten Tag des dritten Monats und am neunten Tag des neunten Monats sind die Wallfahrtsfeste. Dabei wird Theater gespielt und in den heiligen Schriften gelesen. Auch findet regelmäßig ein Jahrmarkt statt. Die Frauen und Mädchen der Nachbarschaft verbrennen Weihrauch und bringen ihre Gebete dar. Kinderlose bitten um Söhne. Sie suchen sich unter den Lehmkindern eines heraus und binden ihm einen roten Faden um den Hals, brechen wohl auch im Geheimen ein Stückchen von seinem Leibe ab, lösen es in Wasser auf und trinken es. Dann beten sie im Stillen, dass das Kind zu ihnen kommen möge.
Hinter dem Tempel ist eine große Höhle, da gab es in früheren Zeiten sprechende Füchse. Sie kamen auch wohl heraus und setzten sich auf die Spitze eines steilen Felsens am Wege. Kam ein Wanderer vorbei, so fingen sie etwa an: »Nachbar, halt’ ein wenig; rauch’ erst eine Pfeife!« Die Wanderer sahen sich verwundert um, woher der Laut käme, und gerieten in großen Schrecken. Waren sie nicht besonders beherzt, so brach ihnen der Angstschweiß aus, und sie liefen davon. Dann lachte der Fuchs: »Hihi!«
Am Berghang pflügte einst ein Bauer. Als er aufblickte, sah er einen Menschen im Strohhut und Grasmantel mit einer Hacke auf der Schulter herbei kommen.
»Nachbar Wang,« sagte er, »rauche erst ein Pfeifchen und ruh dich ein bisschen aus! Ich helfe dir dann
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