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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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doch nicht müde. Auch werden Eure Augen aufgetan, dass Ihr Geister und Götter sehen könnt.«
    Der Mann bedankte sich für das Geschenk und kehrte auf sein Schiff zurück. Er setzte seine Reise fort nach Westen, und nach einem Jahr kam er wieder zurück. Am Großen Berge angekommen, dachte er, es schicke sich doch wohl, wenn er dem Gotte Antwort sage. So schlug er wieder an den Baum und nannte seinen Namen. Schon tauchte auch der rote Bote wieder auf und führte ihn vor den Herrn des Berges. Dem erzählte er, dass er den Brief beim Flussgott abgegeben habe und wie es dort stehe. Der Berggott dankte sehr. Während des Essens, das der Berggott für ihn bereitet hatte, zog er sich für einen Augenblick an einen stillen Ort zurück. Da sah er plötzlich seinen verstorbenen Vater, gefesselt und in Ketten, der mit mehreren hundert Verbrechern zusammen unwürdige Dienste leisten musste.
    Zu Tränen gerührt, fragte er ihn: »Vater, warum seid Ihr hier?«
    Der Vater sprach: »Ich habe während meines Lebens auf Brot getreten; darum ward ich verurteilt, hier an diesem Orte Dienst zu tun. Zwei Jahre sind schon vorüber, doch ist die Bitternis unsäglich. Du bist mit dem Berggott bekannt, da magst du für mich bitten, dass er mir diesen Dienst erläßt und mich zum Ackergott in unserem Dorf ernennt.«
    Der Sohn versprach es ihm. Er kehrte wieder zurück und bat den Berggott für seinen Vater. Der zeigte seiner Bitte sich geneigt, doch sprach er warnend: »Tod und Leben haben verschiedene Wege. Es ist nicht gut, dauernd einander nah zu sein.«
    Der Mann kehrte heim. Doch als etwa ein Jahr vergangen war, da waren seine Kinder beinahe alle gestorben. In seiner Herzensangst wandte er sich an den Gott des Großen Berges. Er klopfte an den Baum; der Rotrock kam und führte ihn in den Palast. Da brachte er seinen Jammer vor und bat den Gott um gnädigen Schutz. Der Berggott lächelte: »Ich hab’ es Euch ja gleich gesagt, dass Tod und Leben verschiedene Wege haben und dass es nicht gut sei, einander dauernd nah zu sein. Das kommt nun davon.« Doch sandte er einen Boten, den Vater zu holen. Der Vater kam, und der Gott sprach also zu ihm: »Deine Schuld habe ich dir vergeben und habe dich in deine Heimat zurückgeschickt als Ackergott. Da war es deine Pflicht, den Deinen Glück zu bringen. Statt dessen sind deine Enkel fast alle weggestorben, warum?«
    Der Alte sprach: »Solange war ich von zu Hause fort, da war ich froh, wieder zurückzukommen. Auch hatte ich Wein und Speise in Hülle und Fülle. Da dachte ich an meine Enkelchen und rief sie zu mir.«
    Der Berggott ernannte darauf einen neuen Ackergott für jenes Dorf und gab dem Vater eine andere Stelle. Von da ab kam kein weiterer Unglücksfall in der Familie vor.

64. Die Rache
    Es war einmal ein Knabe namens Ma. Sein Vater unterrichtete ihn selbst im Hause. Das Fenster des oberen Stockwerks ging hinten hinaus auf die Terrasse des alten Wang, der einen Chry­santhemengarten hatte. Eines Tages stand der Knabe früh auf. Er stand ans Fenster gelehnt und sah zu, wie der Tag zu dämmern begann. Da stieg der alte Wang auf seine Terrasse und begoss seine Chrysanthemen. Wie er eben fertig war und wieder zurück wollte, kam ein Mistträger herauf, der zwei Eimer auf der Schulter trug, und schien beim Gießen helfen zu wollen. Der Greis wurde unwillig und wies ihn zurück. Aber der Mistträger wollte durchaus herauf. So zerrten sie sich am Rande der Terrasse hin und her. Es war regnerisches Wetter, die Terrasse war glatt, der Rand schmal und hoch, und als der Greis den Mistträger mit der Hand zurückstieß, verlor dieser das Gleichgewicht, glitt aus und stürzte hinunter. Nun eilte der Greis hinab, um ihm aufzuhelfen; aber die beiden Eimer waren ihm auf die Brust gefallen, und er lag mit ausgestreckten Beinen da. Der Greis erschrak aufs äußerste. Ohne einen Laut von sich zu geben, nahm er den Mistträger bei den Füßen und schleppte ihn zur Hintertür hinaus an das Ufer des vorbei fließenden Flusses. Darauf holte er die Eimer und stellte sie zur Seite der Leiche nieder. Dann ging er heim, schloss die Tür und legte sich wieder zu Bett.
    Der junge Ma dachte trotz seiner Jugend, dass es besser sei, über eine solche Sache, wo es sich um ein Menschenleben handle, nicht zu sprechen. Er schloss das Fenster und zog sich zurück. Die Sonne stieg allmählich höher, und er hörte draußen ein Geschrei: »Am Flussufer liegt ein Toter!« Der Büttel machte Anzeige, am Mittag kam der Richter

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