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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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unter Gongschlägen an, der Leichenbeschauer kniete nieder und deckte den Leichnam auf, doch hatte er keine Wunde. Da hieß es: »Er ist ausgeglitten und hat sich zu Tode gefallen.« Der Richter fragte die Nachbarn, die Nachbarn beteuerten alle, sie wüßten von nichts. Da ließ ihn der Richter in einen Sarg tun, drückte sein Siegel darauf und erließ einen Befehl, nach den Verwandten des Verstorbenen zu suchen. Dann ging er weg.
    Neun Jahre waren seitdem vergangen. Der junge Ma war einundzwanzig Jahre alt und war Bakkalaureus geworden. Sein Vater war tot, die Familie arm. Darum versammelte er in dem Zimmer, wo er früher selbst gelernt hatte, einige Schüler um sich, die er in den Schriften unterrichtete.
    Die Zeit der Prüfungen nahte heran. Ma war früh aufgestanden, um zu arbeiten. Er öffnete das Fenster und sah in einer fernen Gasse einen Mann mit zwei Eimern auf der Schulter allmählich herankommen. Er sah genauer hin, da war es der Mistträger. Aufs Äußerste erschrocken, dachte er, er komme, um sich an dem alten Wang zu rächen. Doch ging er an der Tür des Alten vorbei, ohne einzutreten. Er ging einige Schritte weiter bis zum Haus der Familie Li; da ging er hinein. Die Lis waren reiche Leute, und als nahe Nachbarn pflegten die Familien einander zu besuchen. Die Sache kam ihm bedenklich vor; er machte sich auf, ihm nachzugehen.
    Vor dem Tor der Familie Li begegnete er einem alten Diener, der herauskam und sagte: »Unsere Frau sieht ihrer Niederkunft entgegen. Es ist sehr dringend. Ich will eben eine Hebamme holen.«
    Er fragte ihn: »Ist nicht gerade eben ein Mann mit zwei Eimern zu euch gekommen?«
    Der Diener verneinte. Noch ehe sie ausgeredet hatten, kam eine Magd aus dem Haus und sprach: »Ihr braucht die Hebamme nicht mehr zu rufen, die Frau ist eben mit einem Knaben niedergekommen.« Da ging es dem Ma auf, dass der Mistträger gekommen war, um wiedergeboren zu werden, nicht um sich zu rächen. Nur verwunderte er sich, womit der Mistträger es verdient habe, in einer so reichen Familie geboren zu werden. Er behielt die Sache im Auge und erkundigte sich nach dem Ergehen des Knaben.
    Wieder waren sieben Jahre vergangen, und der Knabe wuchs allmählich heran. Er hatte keine Lust am Lernen; doch liebte er es, Vögel zu halten. Der alte Wang war noch immer gesund und rüstig. Er war nun mehr als achtzig Jahre alt, und mit dem Alter hatte seine Liebe zu den Chrysanthemen noch zugenommen.
    Eines Tages war Ma wieder einmal früh aufgestanden und lehnte an seinem Fenster. Da stieg der alte Wang auf seine Terrasse und begoß seine Chrysanthemen. Der kleine Li saß im oberen Stock seines Hauses und ließ seine Tauben fliegen. Plötzlich flogen einige Tauben auf das Geländer der Blumenterrasse. Der Knabe fürchtete, sie könnten davonfliegen, und rief ihnen mehrmals. Die Tauben rührten sich nicht. Der Knabe wußte sich nicht zu helfen; er hob Steine auf und warf nach ihnen. Aus Versehen traf er den alten Wang. Der Alte erschrak, glitt aus und fiel über die Terrasse herunter. Die Zeit verstrich, und er richtete sich nicht auf. Mit ausgestreckten Beinen lag er da. Der Knabe erschrak aufs Äußerste. Ohne einen Laut von sich zu geben, schloss er leise das Fenster und ging. Die Sonne stieg allmählich höher, und die Söhne und Enkel kamen alle, den Alten zu suchen. Sie fanden ihn und sprachen: »Er ist ausgeglitten und hat sich zu Tode gefallen.« Und sie begruben ihn, wie es der Brauch war.

65. Der Geisterseher
    Es war einmal ein Mann, der mit einigen neugierigen Freunden zusammen Klopfgeister rief. Eines Tages hatte sich ein berühmter Doktor aus dem Mittelalter eingestellt. Aber die Reden, die er führte, waren roh und ungebildet, und seine Gedichte reimten sich nicht recht. Er war auch immer gleich zur Stelle, wenn man ihn rief.
    Einmal, als sie mitten im Fragen und Antworten waren, gab er den Spruch: »Ich will gehen.« Sie fragten wohin. Da hieß es: »Die Familie Tsiän hat mich zum Essen geladen.« Darauf schwieg die Platte. Die Familie wohnte in der Nähe. Die Freunde waren neugierig; darum gingen sie hin, um sich nach der Sache zu erkundigen. Da hörten sie, dass man dort wegen eines Krankheitsfalles Opfer dargebracht hatte.
    Tags darauf kam der Geist wieder. Man fragte ihn: »Warst du bei den Leuten zum Essen?« »Ja«, kam es heraus. »War es gut?«
    »O ja, ziemlich.«
    Da fragten sie ihn höhnisch: »Die Leute haben doch Götter gebeten, nicht berühmte Männer. Sie wollten den Stadtgott oder den

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