Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Ackergott haben. Wie kann ein so großer Mann wie du dahin gehen, um bei ihnen zu essen?«
In die Enge getrieben, hieß es: »Ich bin gar nicht der Doktor. Ich bin Li Be-Niän aus Schantung.«
»Wer war denn Li Be-Niän?« fragten sie.
»Ich war ein Baumwollhändler zur Zeit Kanghis und starb hier unterwegs. Meine Seele wohnt in dem Tempelchen bei der Brücke. In dem Tempelchen hausen außer mir noch zwölf andere heimatlose Seelen. Weil wir keine besondere Schuld hatten, können wir uns frei bewegen. Die Opfer, die so im Dorf herum gebracht werden, kommen alle uns zugute.«
Sie fragten: »Die Opfer für den Stadtgott und die anderen Götter sind doch alle an einen bestimmten Namen gerichtet. Wie könnt ihr namenlosen Seelen euch denn unter diese Götter mischen?«
Da hieß es: »Der Stadtgott und die anderen gehen nicht so ohne weiteres in der Leute Häuser. Die Opfer, die man dort bringt, bleiben alle von ihnen unberührt. Das machen wir uns zunutze.«
Nun fragte man: »Wenn ihr Namenlosen die Opfer der himmlischen Götter aufeßt, und die erfahren es, bestrafen sie euch da nicht?«
»Was fragen die himmlischen Götter nach solchen Gebeten! Das sind alles nur Gebräuche und Sitten der törichten Menschen. Kommt es doch vor, dass Dämonen die Leute besessen machen, um Speiseopfer zu erpressen, und es geschieht ihnen selbst dann nichts. Wieviel weniger werden sich die Himmlischen darum kümmern, wenn wir uns Speiseopfer zunutze machen, die wir nicht erpreßt, sondern die die anderen von sich aus hingestellt haben. Der Tee und Wein, den ihr mir dargebracht habt, ist ja auch nicht von mir erpreßt worden.«
»Wenn es so ist,« fragte man weiter, »warum hast du dann den Namen jenes berühmten Doktors angenommen?«
»Euer Hausgeistchen hielt die Beschwörung in der Hand und suchte nach einem Geist. Es getraute sich aber nicht, von droben wirkliche Heilige zu bitten. Es holte immer nur einen von uns dreizehn. Da von uns allen aber nur ich allein ein wenig schreiben kann, so machte ich mich frei, um euren Wünschen zu entsprechen. Wenn ich aber meinen wirklichen Namen Li Be-Niän genannt hätte, hättet ihr mich dann etwa so geehrt? Nun sah ich, dass hier am Ort viele Familien jenen Doktor gebeten hatten, Inschriften für sie zu schreiben; daher wußte ich, dass es ein berühmter Mann war, so kam ich denn unter seinem Namen.«
»Wenn euresgleichen nicht gebunden sind,« fragte man, »warum kehrst du denn dann nicht nach Schantung zurück?«
»An den Pässen, Furten und Brücken sind überall Geister. Wenn man denen kein Geld gibt, lassen sie einen nicht durch.«
»Wenn ich dir hundert Papiergeldstücke verbrenne, dass du heim kannst, ist dir das recht?«
»Ja, ja, vielen Dank! Aber wenn Ihr mir eine Gunst bezeugen wollt, so brauche ich noch weitere hundert Geldstücke, damit ich den Brückengeist, bei dem ich gewohnt, abzahlen kann; sonst komme ich immer noch nicht im Guten fort.«
So verbrannte der Mann Papiergeld, um dem Geiste das Geleite zu geben. Er hat aber seitdem keine Geister mehr gerufen.
66. Die Geister der Erhängten
Der große Dichter Su Dung Po liebte es, von Geistern zu erzählen; doch hatte er selber keinen je gesehen. Ein anderer namens Yüan Dschan hat eine Abhandlung geschrieben, dass es keine Geister gebe. Da kam eines Tages ein Gelehrter und begehrte ihn zu sehen. »Seit alten Zeiten«, fing er an, »gibt es wahre Geschichten von Göttern und Geistern. Wie kommt Ihr nur dazu, dass Ihr sie leugnet?«
Da setzte ihm Yüan Dschan vernunftgemäß die Gründe auseinander, so dass ein weiterer Widerspruch nicht möglich war.
Da wurde der Gelehrte böse. »Ich bin doch selbst ein Geist«, sprach er. Und ehe er ausgeredet, verwandelte er sich in einen Teufel mit grünem Angesicht und rotem Haar, erschrecklich anzusehen und fürchterlich. So sank er in die Erde und verschwand.
Nicht lange drauf, da starb Yüan Dschan. Von Geistern gibt’s gar viele Arten. Doch die Geister der Gehängten sind die schlimmsten. Diese Geister sind meistens Frauen und stammen gewöhnlich aus armen Familien auf dem Lande. Die törichten Bauernweiber, wenn sie von ihrer Schwiegermutter schlecht behandelt werden oder Hunger leiden müssen und viel Arbeit haben, sind oft mit ihrem Schicksal unzufrieden. Oder sie kommen in Streit mit ihren Schwägerinnen, oder sie werden von ihren Männern beschimpft. Dann sehen sie nicht mehr hinaus und machen aus Verzweiflung ihrem Leben ein Ende. Oft kommt es vor, dass sie Gift
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