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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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Richter der Toten abgesandt, ihn zu holen. Es ist jedoch fester Brauch, dass, wenn einer geholt werden soll, man erst beim Stadtgott sich zu melden hat. Der Stadtgott erläßt dann einen Haftbefehl und schickt einen seiner Geisterschergen, um die Seele festzunehmen und mir dann zu übergehen. Darnach erst darf ich ihn mitnehmen.«
    Dung fragte nach den näheren Umständen; doch der andere sprach: ,,Du wirst alles später selber sehen.«
    In der Stadt angekommen, lud Dung den anderen ein, in seinem Haus zu wohnen, und wartete mit Wein und Speisen auf. Der andere aber plauderte nur und berührte weder Becher noch Essstäbchen.
    Dung sprach: »In der Eile konnte ich kein besseres Essen herbeischaffen; es ist dir wohl zu schlecht?«
    Der Gast aber sprach: »O nein, ich bin schon satt und betrunken. Wir Geister genießen nur den Duft; wir sind da anders als die Menschen.«
    Es war schon tiefe Nacht, als er aufbrach, um in den Stadtgott-Tempel zu gehen.
    Kaum dämmerte der Morgen, da war er schon wieder da, um Abschied zu nehmen, und sprach: »Es ist jetzt alles in Ordnung; ich gehe. Nach zwei Jahren wirst du nach Taianfu, der Stadt am Großen Berge, kommen, da werden wir uns wieder sehen.«
    Dem Dung wurde es unheimlich bei der Sache. Nach einigen Tagen kam die Nachricht, dass jener Wang tatsächlich gestorben sei. Der Kreisbeamte reiste nach dem Dorf des Verstorbenen, um sein Beileid zu bezeigen. Dung war in seinem Gefolge. Der Wirt der Herberge war Pächter im Hause des Wang.
    Dung fragte ihn: »Als Herr Wang verschied, ist da nichts Sonderliches vorgekommen?«
    »Es ging sehr unheimlich zu,« antwortete der Wirt, »und meine Mutter, die in dem Hause viel zu tun hat, kam heim und verfiel in eine hitzige Krankheit. Sie war einen Tag und eine Nacht bewußtlos; ihr Atem war fast nicht mehr zu spüren. Sie kam wieder zu sich, gerade an dem Tag, als die Nachricht von dem Tode des Herrn Wang bekannt wurde. Sie erzählte: ,Ich bin in der Unterwelt gewesen und begegnete ihm dort. Er schleppte Ketten am Halse und wurde von mehreren Teufeln vorwärts gezerrt. Ich fragte, was er denn getan habe. Er sagte: ,Ich habe jetzt keine Zeit, es zu erzählen. Wenn du zurückkommst, frage meine Nebenfrau, so wirst du alles erfahren.‹ Meine Mutter ging nun gestern hin und forschte nach. Unter Tränen erzählte die Frau: ,Unser Herr war lange Beamter, doch kam er nicht voran. In Nanking war er Vorsteher des Getreidewesens, da war auch ein hoher Offizier, der mit unserem Herrn sehr vertraut war. Sie hatten sogar einander Brüderschaft zugeschworen. Er kam damals immer zu uns ins Haus, und sie tranken und plauderten miteinander. Eines Tages fragte ihn unser Herr: Wir Verwaltungsbeamten haben ein hohes Gehalt und auch sonst ein gutes Einkommen. Du bist Offizier, hast schon die zweite Rangstufe; aber dein Gehalt ist so niedrig, dass du unmöglich damit auskommen kannst. Hast du nebenher noch andere Einkünfte? — Der Offizier erwiderte: Wir stehen so gut miteinander, dass ich schon offen mit dir reden kann. Wir Offiziere sind darauf angewiesen, uns Nebeneinkünfte zu verschaffen, um unsere Taschen ein bisschen zu füllen. Bei der Auszahlung des Soldes machen wir kleine Kursgewinne; auch führen wir mehr Soldaten in den Listen, als wirklich da sind. Wollten wir nur von unserem Solde leben, so müssten wir Hungers sterben.
    Als unser Herr diese Rede vernommen, da ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, dass er durch Aufdeckung dieser verbrecherischen Machenschaften sich um den Staat ein Verdienst erwerbe und dass das seinem Vorankommen sicher nützlich sei. Auf der anderen Seite dachte er auch darüber nach, dass es nicht recht sei, das Vertrauen seines Freundes zu mißbrauchen. Er zog in diesen Gedanken sich in die hinteren Gemächer zurück. Im Hofe stand ein runder Pavillon. In schwere Gedanken versunken, legte er die Hände auf den Rücken und ging lange um den Pavillon herum. Schließlich stampfte er auf die Erde und sagte mit einem Seufzer: Jeder ist sich selbst der Nächste; ich opfere den Freund. — Dann machte er einen Bericht, in welchem er den Offizier zur Anzeige brachte. Ein kaiserlicher Befehl kam heraus. Die Sache wurde untersucht und der Offizier zum Tode verurteilt. Unser Herr aber wurde sofort im Rang erhöht und kam von da an rasch voran. Die ganze Sache hat außer mir niemand erfahren.‹— Als nun meine Mutter von ihrer Begegnung in der Unterwelt erzählte, da brach die ganze Familie in lautes Weinen aus. Man ließ vier Zelte

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