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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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nehmen oder in den Brunnen springen. Am häufigsten jedoch erhängen sie sich selbst. Die Großväter und Alten wissen zu erzählen, dass die Geister der Gehängten immer andere Frauen verlocken, sich an den Dachbalken aufzuhängen und so den Tod zu finden. Dann erst wird für sie selbst der Weg zur Unterwelt frei, und sie können von neuem ins Rad der Verwandlungen eingehen. Der Geist der Neugehängten sucht dann wieder Stellvertretung. Darum kommt es so häufig vor, dass törichte Weiber sich erhängen. In Märchen und Geschichten ist viel von Geistern der Erhängten die Rede. Oft mag es Zufall sein. Doch eine Geschichte will ich jetzt erzählen, die ich von glaubhaften Leuten selbst gehört.
    In Tsingtschoufu lebte ein Mann, der die militärische Vorprüfung bestanden und nach Tsinanfu musste, um sich dort zu stellen. Es war zur Regenzeit. So traf sich’s denn, dass er, von Schlamm und Regen aufgehalten, nur langsam vorwärts kam, so dass er abends das Herbergsdorf nicht mehr erreichte. Nach Sonnenuntergang kam er an einen kleinen Weiler und bat um Unterkunft. Aber im ganzen Dorf gab es nur ärmliche Familien, die keinen freien Platz in ihren Häusern hatten. So wiesen sie ihn denn nach einem alten Tempel vor dem Dorfe, dass er dort übernachte.
    Die Götterbilder in dem Tempel waren ganz verfallen, dass man sie nicht mehr unterscheiden konnte. Dichte Spinnengewebe überzogen die Tür, und zollhoch lag der Staub. So ging er denn hinaus ins Freie. Da fand er eine alte Treppenstufe. Er breitete die Reisetasche auf dem Stein aus, band sein Pferd an einen alten Lebensbaum, holte die Feldflasche aus der Tasche, machte sich’s bequem und trank. Der Tag war heiß gewesen. Nach heftigem Regen klärte es sich eben wieder auf. Der neue Mond neigte sich zum Untergang. Er war vom Trinken angenehm benebelt, schloss die Augen und wollte schlafen.
    Plötzlich hörte er im Tempel ein raschelndes Geräusch. Ein kühler Wind strich ihm über das Gesicht, dass er zusammenschauerte. Da sah er eine Frau aus dem Tempel herauskommen in alten, schmutzigen, roten Kleidern, das Gesicht kreideweiß wie eine getünchte Wand. Vorsichtig schlich sie vorüber, als fürchtete sie, einem Menschen zu begegnen. Dem Soldaten fehlte es nicht an Mut. So stellte er sich schlafend und regte sich nicht. Mit halb geschlossenen Augen blinzelte er nach ihr. Da sah er, wie sie aus dem Ärmel einen Strick hervor nahm und verschwand. Er merkte nun, dass er’s mit einem erhängten Gespenst zu tun hatte. Leise erhob er sich und ging ihr auf dem Fuße nach. Richtig ging sie ins Dorf.
    Als sie an ein Haus kam, da schlüpfte sie durch eine Türspalte in den Hof. Der Soldat sprang über die Mauer ihr nach. Es war ein Haus mit drei Zimmern. Im hintersten brannte eine Lampe mit trübem Glimmerschein. Er blickte durch die Fensterritze in das Zimmer. Da sah er eine Frau von etwa zwanzig Jahren, die saß auf ihrem Bett und seufzte tief, und von ihren Tränen war ihr Tuch ganz naß geworden. Neben ihr lag ein kleines Kind, das schlief. Die Frau blickte nach dem Dachbalken hinauf. Bald weinte sie, bald streichelte sie das Kind. Als der Soldat näher hinsah, da war der Geist der Erhängten auf dem Balken. Den Strick hatte sie sich um den Hals gelegt und machte die Bewegung des Erhängens. Sooft sie mit der Hand winkte, sah die Frau zu ihr hinauf. So dauerte es eine lange Zeit.
    Endlich sprach die Frau: »Du sagst, es sei am besten zu sterben. Gut, ich will sterben; aber ich kann mich von dem Kind nicht trennen.«
    Dann brach sie wieder in Tränen aus. Das Gespenst lachte und lockte sie aufs Neue.
    Da sprach die Frau entschlossen: »Es ist aus. Ich will sterben.«
    Mit diesen Worten öffnete sie ihre Kleiderkiste, zog neue Kleider an und schminkte sich vor dem Spiegel. Dann zog sie eine Bank heran und stieg hinauf. Sie band ihren Gürtel ab und knüpfte ihn an den Balken. Schon hatte sie den Hals ausgestreckt und wollte hinunterspringen, da wachte das Kind plötzlich auf und fing an zu weinen. Die Frau stieg wieder hinunter und säugte ihr Kind und tätschelte es auf den Rücken. Und wie sie tätschelte, da weinte sie, also dass die Tränen wie eine Perlenschnur ihr aus den Augen fielen. Das Gespenst runzelte die Stirn und zischte, als fürchte es, seine Beute zu verlieren. Nach einer kleinen Weile war das Kind fest eingeschlafen, und die Frau begann wieder, nach oben zu blicken. Dann erhob sie sich, stieg auf die Bank und war eben im Begriff, mit der Hand die Schlinge um

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