Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
den Hals zu legen, als der Soldat laut zu schreien und gegen das Fenster zu trommeln begann. Er schlug es entzwei und stieg ins Zimmer hinein. Die Frau fiel zu Boden und das Gespenst verschwand. Der Soldat brachte die Frau wieder zum Bewußtsein. Er sah von dem Balken einen Strick herunter hängen, wie eine Schleife ohne Ende. Weil er wußte, dass er dem Gespenst der Gehängten gehörte, nahm er ihn an sich.
Dann sprach er zu der Frau: »Gib gut Acht auf dein Kind! Man hat nur ein Leben zu verlieren.«
Damit ging er hinaus.
Es fiel ihm ein, dass sein Gepäck und sein Esel noch im Tempel waren. So ging er hin, es zu holen. Als er vors Dorf hinaus kam, da stand auch schon das Gespenst auf dem Weg und wartete auf ihn.
Sie verneigte sich und sprach: »Seit vielen Jahren suche ich schon nach einer Stellvertretung, und heute, da es so weit war, habt Ihr mir das Geschäft verdorben. Da ist nichts mehr zu machen. Doch ich habe ein Ding, das ich in der Eile zurückgelassen habe. Sicher habt Ihr’s gefunden. Darf ich bitten, mir’s zurückzugeben! Wenn ich nur dieses Ding habe, so macht mir’s nichts, dass ich keine Stellvertretung finde.«
Da zeigte ihr der Soldat den Strick und sagte lachend: »Das ist wohl jenes Ding? Aber wenn ich dir’s zurückgebe, so wird sich sicher jemand erhängen. Das kann ich nicht dulden.«
Mit diesen Worten wickelte er den Strick sich um den Arm, trieb sie weg und sprach: »Geh! Geh!«
Nun wurde die Frau zornig. Ihr Gesicht wurde grün-schwarz, ihr Haar hing wild zerzaust den Nacken herab, blutunterlaufen starrten ihre Augen, die Zunge hing weit aus dem Munde hervor. Sie streckte ihre beiden Hände aus und wollte ihn fassen. Der Soldat schlug mit geballter Faust nach ihr. Aus Versehen schlug er sich dabei selbst an die Nase, so dass das Blut herunter tropfte. Er spritzte einige Tropfen Blut nach ihr, und weil die Geister Menschenblut nicht leiden mögen, so ließ sie ab von ihm, stellte sich einige Schritte von ihm auf und begann zu fluchen. So dauerte es eine gute Weile, bis der Hahn im Dorfe krähte. Da verschwand das Gespenst.
Inzwischen hatten auch die Bauern vom Dorf ihn gesucht, um ihm zu danken. Nachdem er nämlich die gerettete Frau verlassen hatte, war deren Mann nach Hause gekommen und fragte seine Frau über das Geschehene aus. Da erst erfuhr er, was sich zugetragen hatte. Die Nachbarn, die die Frau weinen hörten, versammelten sich vor ihrem Hause. So machten sie sich miteinander auf den Weg, um den Soldaten vor dem Dorfe zu suchen. Sie fanden ihn, wie er noch immer mit den Fäusten in der Luft herumfuchtelte und heftig redete. Da riefen sie ihn an, und er erzählte, was ihm begegnet. An seinem nackten Arme sah man noch den Strick; doch war er an dem Arme angewachsen und umgab ihn als ein roter Ring von Fleisch.
Eben dämmerte der Morgen. Er schwang sich auf sein Pferd und trabte davon.
67. Gespenstergeschichten
Wenn ein Mensch stirbt, so legt man den Leichnam zunächst auf das Bett, mit dem Gesicht nach oben. Man zieht ihm neue Kleider an und legt ihm eine Hirseähre zu Häupten und ein Pflugmesser auf die Brust, damit der Leichnam nicht aufsteht. Dennoch hört man zuweilen, dass ein Leichnam aufsteht. Die alten Leute erzählen, ein Leichnam stehe auf, wenn ihn der Atem lebendiger Menschen trifft oder Hund oder Katze ihn beschnüffelt. Dann richtet er sich auf. Sitzt der Mensch, so setzt sich auch der Leichnam, steht der Mensch, so stellt sich auch der Leichnam auf die Beine. Läuft der Mensch in seiner Angst davon, so läuft der Leichnam ihm nach, wie von einer geheimen Kraft angezogen. Doch können solche Leichen nicht sprechen.
Man sagt, solange ein Leichnam noch nicht im Sarge liege, dürfen die Leute, die die Totenwacht halten, nicht mit der Leiche Fuß gegen Fuß sich zum Schlafe niederlegen. Denn während der Mensch schläft, kreist die Kraft des Lichten in seinem Körper bis hinab zu den Fußsohlen. Stößt er dann zufällig an den Fuß der Leiche, so strömt die Kraft des Lichten in den Leichnam ein und mischt sich dort mit der Kraft des Trüben, so dass die Leiche ein scheinbares Leben erhält.
Es kommt auch vor, dass Leichen, die schon begraben sind, nicht verwesen und bei Nacht aus dem Grab kommen und umgehen. Das sind die Gespenster. Wenn es lang dauert, so verwandeln sie sich allmählich in Geister der Dürre, die lang anhaltende Trockenheit verursachen können. Wenn am Himmel Wolken aufsteigen und es regnen will, so nimmt der Geist der Dürre einen
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