Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Besen und kehrt die Wolken zusammen, dass sie auf seinem Grab sich sammeln. Dann wird der Himmel wieder klar, und die Sonne kommt wieder heraus. Um diese Geister der Dürre zu erkennen, gibt es ein bestimmtes Mittel: Man forscht nach, ob unter den Gräbern der in der Nachbarschaft kürzlich Beerdigten eines ist, auf dem Regenfeuchtigkeit liegt, während ringsum alles trocken ist. Das muss es sein. Die Ältesten versammeln dann die ganze Mannschaft; man öffnet das Grab und macht den Sarg auf. Wenn man dann sieht, dass die Leiche nicht verwest ist, sondern weiße und grüne Haare auf ihr wachsen, so wird sie mit Stöcken kräftig geschlagen und mit Feuer verbrannt. Dabei gibt es dann einen zischenden Laut. Darum herrscht auf dem Lande allgemein die Sitte, dass, solange ein Leichnam aufgebahrt ist, man alle Besen sorgfältig versteckt, damit er sie nicht stiehlt und zum Geist der Dürre wird. Treibt ein solcher Geist sein Wesen lange, so verwandelt er sich in einen Werwolf oder in einen Oger, der durch den Himmel fliegt.
Zur Sung-Zeit lebte ein Mann, der einen besonders starken Willen hatte. Der ging nach seinem Tod als Gespenst um und verwandelte sich schließlich in einen goldhaarigen Werwolf. Dieser Werwolf sah aus wie ein Löwe, nur war er viel größer und hatte am ganzen Leib goldene Haare, die über ein Fuß lang waren. Er fraß Menschen und Tiere ohne Zahl. Die Zauberer konnten seiner nicht Herr werden, bis endlich der Heilige Wen Dschu kam. Der brachte ihn zur Unterwerfung, so dass er auf ihm reiten konnte.
Es gibt im Buddhismus drei starke Nothelfer, die man allenthalben abgemalt sehen kann. Sie alle reiten auf Tieren. Der eine ist der heilige Pu Hiän, der reitet auf einem Löwen; der andere ist der Heilige im weißen Gewand, der reitet auf einem Elefanten. Dieser Heilige wird als Guan Yin oder Göttin der Barmherzigkeit auf der Insel Putou im Südmeer verehrt. Der dritte endlich ist eben der heilige Wen Dschu auf dem Werwolf.
68. Das tote Mädchen
Es waren einmal fünf Karrenschieber. Die kamen des Abends an eine Herberge und wollten übernachten. Der Wirt wies sie ab, weil alle Räume überfüllt waren. Doch ließen sie nicht ab mit Bitten. Da führte sie der Wirt in einen inneren Hof. Auf der Ostseite stand ein kleines Häuschen mit drei Zimmern. Im mittleren Zimmer war die Leiche eines Mädchens aufgebahrt, und ihr Gesicht war mit einem weißen Papier bedeckt. Bei diesem Anblick erschraken die fünf und wagten sich nicht hinein.
Der Wirt erklärte ihnen: »Das ist meine Schwiegertochter, die kürzlich verstorben ist. Mein Sohn ist fort, um einen Sarg zu kaufen, und noch nicht wieder da, darum ist sie noch aufgebahrt. Sonst habe ich keinen Platz zum Übernachten. Ihr müsst eben vorlieb nehmen.«
Die fünfe dachten: »Es ist schon dunkle Nacht und nirgends sonst ein Unterkommen. Da können wir schon eine Nacht hier verbringen. Wir sind ja auch zu fünft, und vor was sollten wir uns schließlich fürchten?«
So gingen sie denn miteinander in das Haus. Im Nebenzimmer war eine gemauerte Schlafstelle, die war groß und bequem. Der Wirt zündete eine Lampe an und brachte ihnen etwas zu essen. Nach dem Essen schliefen vier von ihnen, da sie rechtschaffen müde waren, sogleich ein. Der fünfte aber war ängstlich von Natur. Er legte sich auf die Seite, aber konnte nicht schlafen. Plötzlich hörte er im Nebenzimmer vom Bett der Leiche her ein knitterndes Geräusch. Er machte die Augen auf und blickte hin. Da sah er, wie der Schein der Lampe völlig grün geworden war. Und schon stand auch das Mädchen auf und kam in das Zimmer herein. Sie blies seinen vier Kameraden allen ins Gesicht. Er war starr vor Schrecken, und weil er keinen Ausweg sah, zog er die Decke über das Gesicht und blieb zusammen gekrümmt liegen. Die Leiche wandte sich ihm zu. Sie neigte den Kopf und blies ihn an. Dreimal blies sie; dann ging sie wieder hinaus. Er hörte, wie das Bett krachte, öffnete die Decke und blickte verstohlen nach ihr hin. Da lag die Leiche wieder ausgestreckt mit dem Gesicht nach oben. Nun stieß er mit dem Fuß seine Kameraden an; kein einziger wachte auf. Er schüttelte sie am Arm; keiner regte sich. Er hörte genau hin; ihr Atem ging nicht mehr. Da merkte er, dass seine vier Kameraden tot waren. Es überfiel ihn eine entsetzliche Angst, und er dachte, es sei vielleicht am besten, einfach davonzulaufen. Aber kaum hatte er sich bewegt, da hörte er auf dem Bette wieder ein Geräusch. Er richtete sich auf und
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