Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
wollte von seiner Schlafstelle herab. Da saß auch schon die Leiche aufgerichtet. Er nahm sich keine Zeit mehr, die Kleider zuzuknöpfen oder in die Schuhe zu schlüpfen, sondern riss den Riegel auf und stürzte hinaus. Er kletterte über die Hofmauer und entfloh. Aber die Leiche rannte hinter ihm her. Er wollte den Wirt rufen; doch fürchtete er, sie könnte ihn einholen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als geradewegs ins Feld hinauszulaufen, so schnell er nur konnte. Die Leiche blieb ihm auf den Fersen. So liefen sie wohl eine Meile weit. Da kam er an ein Kloster. In größter Hast schlug er an die Pforte. Der Bonze aber, der in dieser tiefen Nachtstunde den Lärm vernahm, fürchtete, es sei ein Räuber und zögerte aufzumachen. Schon war der Leichnam herangekommen. In seiner Todesangst erblickte er vor der Klosterpforte eine große Kiefer, die so dick war, dass man sie nicht umfangen konnte. Schleunigst versteckte er sich hinter dem Baum. Die Leiche griff mit beiden Armen um den Baum herum und wollte ihn packen. Da stieg sein Schreck aufs Äußerste; er fiel zu Boden und blieb bewußtlos liegen. Da erstarrte auch die Leiche, die noch immer den Baum umfangen hielt.
Als der Bonze hörte, dass draußen plötzlich alles still geworden war, da zündete er ein Licht an, machte die Pforte auf und guckte nach. Da sah er eine Frau, die den Baum umfangen hatte mit geschlossenen Augen, und ein Mann lag dahinter auf dem Boden, laut röchelnd. Er rüttelte ihn am Arm. Da kam er wieder zu sich und erzählte alles, was er erlebt hatte.
Als der Tag zu dämmern anfing, da kam auch der Wirt herbei, der auf der Suche nach dem Leichnam war. Er sagte, die vier Gäste seien alle gestorben und er wisse sich nicht zu helfen. Der Bonze riet ihm, sofort dem Beamten Anzeige zu erstatten. Der Beamte kam und befahl, dass die Leiche der Frau zurückgebracht werden sollte. Aber die Leiche hielt den Baum so fest umfangen, dass man sie nicht losbekommen konnte. Man sah nach, und es zeigte sich, dass die Finger beider Hände tief in das Holz eingedrungen waren. Man musste alle Kraft anwenden, um sie herauszureißen.
Da begann der Mann zu weinen und sprach: »Wir sind zu fünfen ausgezogen, und ich komme nun allein zurück. Wie soll ich mich von dem Verdacht reinwaschen, dass ich die anderen umgebracht?«
So sandte denn der Beamte eine Feststellung des Sachverhalts in die Heimat des Mannes und ließ auch die vier Toten zur Beerdigung dorthin überführen.
69. Der unartige Knabe
In der Nähe von Kiautschou lebte ein Gelehrter. Der war einige Meilen von seinem Heimatort entfernt als Hauslehrer bei einem reichen Manne angestellt. Er hatte einen fünfzehnjährigen Sohn, den er zu Hause zurückließ. Der Knabe hatte die heiligen Schriften schon gelernt und war eben daran, sich im Aufsatzschreiben zu üben. Sein Vater befahl ihm, fleißig zu arbeiten. Er gab ihm zwölf Aufsatzthemen und hundert Blätter mit alten Schriftzeichen, die er nachmalen sollte. Nach dem Laternenfest ging er weg, am Frühlingsfest wollte er wiederkommen. Bis dahin sollte der Knabe mit allem fertig sein, und sein Vater wollte die gemachten Arbeiten prüfen. Er schärfte ihm noch ein, dass er die Zeit nicht vertrödeln dürfe, und bestellte seinen Oheim, der ebenfalls ein großer Gelehrter war, ihn zu beaufsichtigen.
Kaum war der Vater weg, so tat der Knabe nichts anderes, als sich draußen herumzutreiben, und ließ seine Aufgaben unberührt liegen. Es war ein sehr begabter Junge, und er meinte, die zwölf Aufsätze und die hundert Seiten Schriftzeichen seien schnell gemacht. Er hatte eine Freude am ungebundenen Umherstreifen und dachte, in den letzten Tagen vor seines Vaters Heimkehr die Arbeiten rasch noch fertig zu bringen.
Allein sein Oheim kam dazu, und als er des Knaben Faulheit sah, da wurde er böse und sagte zu ihm: »Ich werde deinem Vater alles erzählen, was du getan hast.«
Da bekam der Knabe Angst; denn sein Vater war unerbittlich streng und hatte ihn schon oft halbtot geschlagen. In seiner Verblendung nahm er Opium und vergiftete sich. Man legte ihn in den Sarg und bestattete ihn vorläufig vor dem Dorfe.
Als sein Vater die Nachricht erhielt, nahm er sich vor, am anderen Tag heimzukehren. Um die zweite Nachtwache stand sein Sohn plötzlich da. Er fragte ihn; aber er gab keine Antwort. Der Vater lag schon im Bett, und ehe er sich’s versah, schlüpfte der Knabe zu ihm unter die Decke. Sein Leib war kalt wie Eis. Erschrocken stand der Vater auf. Der
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