Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Knabe hielt ihn fest und weinte. Der Vater, dem es unheimlich wurde, rief die Leute herbei. Man kam, um nachzusehen, doch der Knabe war nur dem Vater sichtbar; die anderen Leute sahen nichts. Es dauerte bis gegen Morgen, da verschwand der Knabe.
Der Vater gab nun seine Stelle auf und kehrte eilig heim. Als es Abend wurde, erschien der Knabe wieder im väterlichen Hause. Als er seinen Vater erblickte, trat er ihm zornig entgegen. Die Mutter aber sah und hörte nichts. Der Vater wurde schließlich krank und sah ihn selbst am lichten Tage.
Einst ging sein Oheim vor das Dorf. Als er einige Schritte von dem Grab entfernt war, da kam der Knabe plötzlich aus dem Grab hervor, warf mit beiden Händen Steine nach ihm und rief scheltend hinter ihm her. Da bekam der Oheim Angst und lief eilig heim, legte sich nieder und wurde auch krank.
Der Knabe war schon früh mit einem Mädchen aus dem Nachbardorf verlobt worden, und es war auch schon ein Tag für die Hochzeit bestimmt gewesen. In jener Nacht sah das Mädchen plötzlich einen Schüler an ihr Bett treten, der weinend ihre Hand ergriff und sprach: »Ich bin dein Bräutigam. Durch ein Unglück bin ich gestorben. Es tut mir leid, dass unsere Heirat nicht zustande gekommen ist. Heute komme ich, um Abschied von dir zu nehmen. Halte dich immer wert und vergiß mich nicht!« Unter Tränen ging er weg. Von jener Zeit an sahen ihn auch andere Leute als Gespenst umgehen.
So war ein Monat vergangen. Da versammelten sich die Bauern zur Beratung. Sie sprachen: ,,Das darf man nicht länger mit ansehen.« So beriefen sie denn einen Zauberer, um den Spuk zu bannen. Der Zauberer kam an das Grab und suchte sorgfältig die ganze Umgebung ab. Dann sprach er: »Dieser Knabe ist im Begriff, ein Geist der Dürre zu werden. Er hätte noch schlimmen Schaden getan. Zum Glück ist’s noch an der Zeit, und er läßt sich noch leicht bannen.« Dann schnitzte er aus Pfirsichzweigen Nägel, die er an den vier Ecken des Grabes einschlug. Er schrieb mit roter Tusche Zaubersprüche und heftete sie an die Pfirsichnägel, so dass das Gespenst nicht heraus konnte. Dann ließ man einige Dutzend starke Männer kommen, die mit Spießen und Prügeln das Grab umstanden. Acht mutige Leute mussten dann das Grab öffnen. Als der Sarg ans Licht kam, war das vordere Brett aufgerissen. Durch die Öffnung sah man in den Sarg hinein, doch erblickte man den Leichnam nicht. Nur die beiden Schuhe sah man auf dem Boden des Sarges stehen. Der Leichnam selber hing an den Deckel des Sarges gedrückt in der Luft. Die Kleider hatte er ausgezogen, und sie lagen zusammengerollt auf dem Boden. Am ganzen Leibe waren weiße Härchen gewachsen. Man verbrannte nun den Leichnam. Und von jener Zeit an hörte der Spuk auf. Auch der Vater erholte sich wieder von seiner Krankheit.
70. Bestrafte Habgier
Es lebte ein Mann südlich vom Yangtsekiang. Der hatte eine Stelle als Lehrer angetreten in Sütschoufu an der Grenze von Schantung. Als er dort ankam, war das Schulhaus noch nicht fertig. Man hatte in der Nachbarschaft ein zweistöckiges Haus entlehnt, in dem der Lehrer vorläufig wohnen und Schule halten sollte. Das Haus stand außerhalb des Dorfes, in der Nähe des Flussufers. Eine weite Ebene, mit wildem Gestrüpp bewachsen, dehnte sich nach allen Seiten aus. Dem Lehrer gefiel die Aussicht.
So stand er eines Abends da und sah, an die Tür gelehnt, dem Sonnenuntergang zu. Der Rauch, der aus den Hütten stieg, mischte sich allmählich mit den Schatten der Dämmerung. Alle Geräusche des Tages waren verstummt. Plötzlich sah er in der Ferne am Flussufer einen Feuerschein aufblitzen. Er eilte hin, um sich die Sache anzusehen. Er fand einen hölzernen Sarg, aus dem der Feuerschein hervorkam. Er dachte bei sich selbst: »Die Edelsteine, die man den Toten mitgibt, leuchten bei Nacht. Vielleicht sind Kleinodien darin.« In seinem Herzen wachte die Gier auf, und er vergaß darüber, dass ein Sarg ein Ruhebett der Toten ist. Er hob einen großen Stein auf und schlug damit den Sargdeckel entzwei. Er bückte sich nieder, um genauer zuzusehen. Da erblickte er im Sarg einen Jüngling ausgestreckt liegen. Sein Gesicht war weiß wie Papier. Auf dem Kopf hatte er einen Trauerhut; hanfene Kleider umhüllten den Leib, und Strohsandalen trug er an den Füßen. Der Lehrer erschrak aufs Äußerste und wandte sich, um wegzugehen. Aber schon hatte sich der Leichnam aufgerichtet. Da packte ihn die Angst, und er lief davon. Der Leichnam stieg aus dem Sarg und
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