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Maerchen aus Malula

Titel: Maerchen aus Malula
Autoren: Rafik Schami
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Monate lang wartete dein Bruder geduldig auf das Lamm, und genausolange mußt du hinter Gittern auf die Freiheit warten.«
    Der Bruder nahm widerwillig seinen großen Geldbeutel, zählte fünfhundert Piaster auf den Tisch und verließ den Saal.
    »Und nun zum angesehenen Händler Hamad aus der edlen Familie Hamdan. Warum hast du ihm die Nase blau geschlagen?« fragte der Richter, der die Familie Hamdan gut kannte und hoch schätzte. Farag erzählte die Geschichte, dann ließ der Kadi den Händler erzählen.
    Er hörte genau zu, dann sprach er: »Ich bin bitter enttäuscht. Weshalb hast du den armen Mann nicht zum Essen eingeladen? Statt dessen verlangt deine Frau einen Mundvoll Malven als Miete für die Mauer. Warum nicht auch noch für die Luft, die der arme Teufel in der Nähe deines Hofes geatmet hat? Ist der Mund deiner Frau noch nicht voll genug mit all dem, was dieHamdan besitzen? Du gibst dem Mann siebenhundert Piaster, weil du ihn vor allen Nachbarn mit deinem Hochmut beleidigt hast. Nun zu dir, mein Freund. Was ist denn heute mit dir los?« fragte der Richter und grinste den einäugigen Mann an, denn er kannte ihn als Gelegenheitszeugen für jeden, der zahlte.
    »Dieser Bauer hat mir das rechte Auge ausgeschlagen.«
    Farag wollte reden, doch der Richter erhob seine Hand. »Komm näher«, rief er dem Einäugigen zu, »ich will das Auge sehen.«
    Der Zeuge zögerte, doch er trat zum Richter. »Komisch«, sagte dieser. »Das Auge ist weg, ohne daß du einen Blutstropfen verloren hast. Das ist ja ein Wunder. Ich möchte sehen, wie das geht. Farag soll dir das andere Auge ausschlagen, und wenn das andere auch nicht blutet, so darfst du ihm ebenfalls beide Augen ausschlagen.«
    »Aber Herr, dann verliere ich mein Augenlicht!« rief der Einäugige entsetzt.
    »Es soll Gerechtigkeit herrschen«, antwortete der Richter streng, wandte sich an Farag und rief: »Ohrfeige ihn, bis das Auge herausspringt«, doch der Einäugige schrie: »Erbarmen, Herr! Ich habe gelogen. Hier ist mein Glasauge. Ich wollte doch nur etwas Geld verdienen. Dieser Mann ist unschuldig.«
    »Nun ist die Sachlage anders geworden. Du darfst dein Auge behalten, aber du zahlst dem Unschuldigen vierhundert Piaster und läßt dich nie mehr amGerichtshof blicken.« Der Einäugige zahlte seine Piaster und ging gesenkten Kopfes hinaus.
    »Meine Sache ist aber gerecht«, rief der Holzhauer und erzählte lobend vom Bruder, dem Zeugen und dem Händler, die ihm gute Ratschläge gegeben hätten, und schimpfte fürchterlich auf Farag, der ihm den Gaul verdorben habe. Der Richter hörte genau zu und forderte Farag auf, seine Geschichte zu erzählen.
    »Herr!« sagte dieser. »Ich könnte nie so weise Ratschläge geben wie mein Bruder und die anderen. Ich sah den Mann in Bedrängnis und half ihm, so gut ich konnte. Doch ich weiß als Bauer, ein Gaul verdirbt an den Zähnen und nicht am Schwanz.«
    Der Richter lachte. »Gut«, sprach er zu dem Holzhauer, »gib ihm deinen Gaul, damit er ihn zur Arbeit benutzt, bis dem Tier ein neuer Schwanz gewachsen und es nicht mehr verdorben ist, dann kannst du es dir wieder bei ihm holen.«
    »Aber was ist, wenn meinem Gaul kein Schwanz wächst? Lieber soll er ohne Schwanz mein Holz tragen, als daß ich meinen Rücken damit schinde«, jammerte der Holzhauer und wollte gehen, doch der Richter befahl ihm, hundert Piaster für seine Undankbarkeit zu zahlen.
    »Und nun zu dir«, wandte sich der Kadi an den fünften Kläger.
    »O Herr, mein Neffe lag im Schatten der Moschee unter dem Minarett, da sprang dieser Gottverfluchte auf ihn und tötete ihn.«
    Der Richter fragte Farag, weshalb er vom Minarett gesprungen sei, und dieser antwortete: »Als ich mit den vier Klägern die Stadt erreichte, bekam ich Angst. Was wiegt die Wahrheit gegen vier Lügen? Das fragte ich mich und bekam von Schritt zu Schritt immer größere Angst. Ich war noch nie am Gerichtshof. Nun flüchtete ich in die Moschee, doch sie hetzten hinter mir her. Da wollte ich sterben.«
    »Geh, lege dich unter das Minarett«, sprach der Richter zu Farag. »Der Onkel des Erdrückten soll hinaufsteigen und sich auf dich hinabstürzen.«
    »Und was ist, wenn er sich im letzten Augenblick von der Stelle bewegt?« wollte der fünfte Kläger wissen.
    »Hat er vor seinem Sprung deinen Neffen gebeten, auf der Stelle liegenzubleiben?« zürnte der Kadi.
    »Gnade, Herr, vielleicht breche ich mir dann ein Bein oder gar den Hals.«
    »So verschwinde!« rief der Richter. Er schaute
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