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Maerchen aus Malula

Titel: Maerchen aus Malula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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bat. Die Malulianer, mein Junge, haben im Laufe der Jahrhunderte gelernt, Angriffe aus allen Himmelsrichtungen abzuwehren, doch gegen einen Überfall vom Himmel herab hatten sie kein Mittel. Die Flieger beschossen uns nicht nur. Sie warfen auch Bomben ab. Das Geschrei steckt mir noch heute tief in den Knochen. Viele von uns wurden verletzt und einer starb. Er hieß Chalil Sora. Den armen Bauern werde ich nie vergessen. Unsere Freude war in Trauer umgeschlagen, die lange Wochen andauerte. Als der Pfarrer bei der Regierung in Damaskus protestieren wollte, beschimpften ihn die Militärs: ›Erst bettelt ihr um Hilfe, und wenn wir euch helfen wollen, meckert ihr‹, spotteten sie. Seitdem können viele Malulianer kein Militär der Welt mehr leiden.« Mein Vater machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Nun, das war vor vierzig Jahren. Seitdem hat niemand mehr Malula angegriffen. Dochich erinnere mich genau daran, daß dein Großvater einmal Fieber hatte. Er richtete sich plötzlich in seinem Bett auf und rief laut: ›Sie kommen unbemerkt auf leisen Sohlen!‹ Als wir ihn fragten, wer da kommen sollte, lachte er bitter. ›Was helfen die Felsen, wenn die Malulianer dem Eroberer ihre Schlafzimmer anbieten.‹ Vielleicht war das das Fieber, denn er hat sich diesmal doch geirrt. Denn so dumm können die Malulianer nicht sein, den Mördern und Brandstiftern auch noch ihre Schlafzimmer aufzuschließen«, fügte mein Vater hinzu und drückte auf den Knopf des Fernsehers.
     
    »Vierhundert Jahre habe ich es hier ausgehalten,denn ich wußte, der König wird immer wieder versuchen, Takla zu entführen«, sprach mein Großvater in der nächsten Nacht im Traum zu mir und leckte seine ausgetrockneten Lippen.
    »Wer ist dieser König, und was hat Malula ihm angetan?« fragte ich neugierig.
    »Was? Hast du noch nicht vom König gehört?« wunderte sich der Alte.
    »Nein, erzähl doch mal, Opa«, bat ich den alten Mann.
    »Mein Gott, wo soll ich bloß anfangen?« stöhnte er, dann aber rief er: »Gut, ich werde dir die ganze Geschichte erzählen:
    Jauma mjumo oth ehda bertsch elmalka uschma Takla, uaibin tisoja ma’aptil Sanma …«
    »Aber Opa, ich verstehe kein Wort«, rief ich.
    »Ach ja. Ich habe vergessen, daß du kein Aramäisch kannst«, sagte er verschmitzt und streichelte mir über den Kopf. »Na gut, ich erzähle dir die Geschichte auf arabisch. Es war einmal eine Königstochter namens Takla. Man erzählte, ihre Eltern beteten damals noch zu Götzen. Takla aber schloß sich heimlich den Christen an. Damals wurden die Christen überall verfolgt. Takla war eine kleine und schmächtige Frau, doch sie besaß das Herz einer Löwin. Als sie siebzehn Jahre alt wurde, wollten ihre Eltern sie einem Prinzen zur Frau geben, doch Takla lehnte ab. Sie wollte nicht heiraten. Damals war es einer Frau nicht erlaubt, dem Willen ihrer Eltern zu widersprechen oder ihn gar abzulehnen. So schlugen die Eltern auf Takla ein, doch sie gab nicht nach. Ihr Vater versprach sie dem freienden Prinzen und setzte den Tag der Hochzeit fest. Takla versuchte, ihre Eltern und den Prinzen zu überzeugen, daß sie ihren eigenen Weg gehen müsse, doch sie predigte tauben Ohren. Einen Tag vor der Hochzeitsnacht flüchtete sie. Ihre Zofe, eine griechische Sklavin, gab ihr den Rat, nach Malula zu fliehen. Warum nach Malula, wirst du fragen. Ganz einfach. Malula war in der damaligen Welt als Zufluchtsort für Sklaven bekannt. Aber warum war ausgerechnet ein kleines Dorf am Ende der Welt in aller Munde? Das hat eine Geschichte, die ich dir gleich erzählen will.
    Vor langer, langer Zeit waren die Aramäer, dieUrgroßeltern der Malulianer, ein mächtiges Volk. Doch so mächtig sie auch immer waren, sie konnten ihren Niedergang nicht verhindern, genau wie es die Ägypter, Griechen, Perser und Araber nicht vermochten. Ein mächtiges Heer zog gegen die letzte Festung der Aramäer, um sie zu vernichten. Die Aramäer kämpften verzweifelt und brachten dem Eroberer empfindliche Verluste bei, doch dann erlagen sie seiner Übermacht und fielen in Scharen unter seinen Schwertern und Pfeilen. Etwa hundert Aramäer konnten flüchten. Sie irrten in den Bergen und Ebenen umher. Der Eroberer setzte ihnen nach, bis seine Truppen die halb Verhungerten in eine Schlucht treiben konnten und die Fluchtwege abschnitten. Nun wollte der Heerführer, der den Verlust seiner besten Offiziere zu beklagen hatte, den geschundenen Aramäern nicht einmal einen schnellen Tod gönnen. Sie sollten samt

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