Maerchen aus Malula
ihren Kindern durch Hunger und Durst elend zugrunde gehen. Zwei Tage lange dämmerten die Aramäer in jener Schlucht vor sich hin. Das Geschrei der Kinder schnitt sich in die Herzen der Erwachsenen bitterer als der Tod. Am dritten Tag hörte eine Fee die Rufe der Kinder und eilte zu ihnen. ›Seid ihr nicht die einst mächtigen Aramäer?‹ fragte sie. ›Eure Bauten, Lieder und Märchen sind der feste Boden für die Nachgeborenen. Ihr habt ein gutes Werk vollbracht. Seid froh drum!‹
›Du machst vielleicht Witze‹, zürnte ein junger Schäfer. ›Wir verrecken heute, und du erzählst uns, wieschön es gestern war.‹ Der älteste der Überlebenden wollte sich für die Frechheit des unerfahrenen Jünglings entschuldigen, doch die Fee fand Gefallen an seinem Mut. ›Laß nur. Er hat recht‹, beruhigte sie den alten weisen Mann und verschwand, um nach kurzer Zeit mit Brot, Milch und Wasser zurückzukehren. Nachdem die Aramäer ihren Durst und Hunger etwas gestillt hatten, sprach die Fee: ›Ich hole euch hier heraus und führe euch an einen sicheren Ort, doch ihr müßt mir euer Wort geben, daß ihr, so hoch auch der Preis dafür sein möge, Flüchtenden euer Haus und Herz öffnet. Und so wie ich eure Rufe nicht überhörte, so dürft ihr eure Ohren ihren Hilferufen nicht verschließen.‹
›Wir versprechen es und setzen unser Leben dafür ein, daß jeder Flüchtling in unserer Mitte Zuflucht findet‹, versprachen die geschundenen Aramäer in jener Schlucht. Die Fee nahm sie an die Hand und führte sie durch die Schar der Soldaten, ohne daß diese sie sehen konnten. So erreichten sie den höchsten Berg in Syrien. ›Dort in dem Felsen wird keiner euch unterwerfen können. Vergeßt euer Wort nicht‹, sagte sie zum Abschied.
›Nein, das werden wir nicht. Wir werden unseren Ort nach dir benennen, damit noch unsere Urenkel nie einen schutzsuchenden Fremden zurückweisen. Wie heißt du, gute Fee?‹ fragte der junge Schäfer.
›Malula‹, antwortete die Fee leicht errötend und flog davon, doch man erzählt, sie hätte sich in den jungenSchäfer verliebt und ihn in den nächsten Jahren immer wieder besucht.
Von nun an lebten die Malulianer sicher im Schutz der Felsen. Sie nahmen jeden flüchtenden Soldaten, Sklaven oder Räuber auf, und von Mund zu Mund ging diese Kunde um die Welt, so daß in vielen Armeen der Name Malula als Aufruf zum Ungehorsam galt.
Nun zurück zu Takla. Als sie von Malula erfuhr, machte sie sich auf den Weg. Am nächsten Tag erfuhr die königliche Familie von der Flucht ihrer Tochter. Der König schäumte vor Wut und schickte seine besten Reiter, sie wieder einzufangen. Takla wanderte durch Wälder und Wüsten. Sie ruhte sich am Tage nur für ein paar Stunden aus, doch sie hatte auch nach einem Monat die Reiter noch auf den Fersen. Eines Nachmittags sah sie Staub am Horizont aufsteigen. Sie ahnte, daß sie verloren sei, da ihre Häscher sie noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen würden. Am Straßenrand sah sie einen Bauern seinen Weizen säen. Er schaute sie an. ›Wovor hast du Angst, junge Frau?‹ erkundigte er sich.
›Sie wollen mich umbringen!‹ antwortete Takla.
›Wie kann ich dir helfen?‹ fragte er.
›Gib mir einen Schluck Wasser‹, bat sie und holte Atem. ›Und wenn sie dich nach mir fragen, sage, du hättest mich gesehen, als du gesät hast.‹
›Aber Mädchen, sie werden dich hinter dem nahen Hügel erwischen‹, erwiderte der Mann und gab ihrWasser. Takla trank und eilte davon. Als der besorgte Bauer sich zu seinem Feld umdrehte, stand der Weizen voll in Ähren. Der Mann fiel vor Schreck auf die Knie. Schnell bündelte er seine Sachen, sattelte sein Maultier und wollte Takla folgen, als plötzlich die Reiter auftauchten. ›He, Bauer‹, rief ihr Anführer, ›hast du eine junge Frau von edler Gestalt hier vorbeigehen sehen?‹
›Ja‹, erwiderte der Bauer, hielt eine kurze Weile inne. ›Als ich den Weizen gesät habe‹, fügte er hinzu und schaute den Anführer an. Dieser drehte sich zu seinem Gefolge um. ›Hier stimmt etwas nicht‹, mutmaßte er. ›In dieser Zeit wird kein Weizen reif. Sie ist bestimmt eine Hexe. Wer mitten im Herbst Weizen in Ähren stehen lassen kann, der kann uns mit leichter Hand im Schlaf töten‹, sagte er schaudernd und gab den Befehl zur Umkehr. Takla erreichte nach einem weiteren Monat das Dorf Malula. Sie wurde aufgenommen und lebte zufrieden unter seinen Bewohnern. Doch als die Reiter dem König vom Weizenfeld
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